Putins Kriege

Tschetschenien, Georgien, Syrien, Ukraine –
was sind die Motive des russischen Präsidenten?

Seit Wladimir Putin an der Macht ist, hat er viele Kriege geführt. Häufig rechtfertigt er sie mit dem Schutz russischer Landsleute in Nachbarstaaten.
Doch welche Ziele verfolgt er tatsächlich?

1999 – 2009:
Zweiter Tschetschenien-Krieg 

Hintergrund:

Tschetschenien ist eine autonome Region in Russland. Hier herrscht schon von 1994 bis 1996 Krieg gegen russische Truppen, weil eine tschetschenische Nationalbewegung nach dem Zerfall der Sowjetunion völkerrechtswidrig die Unabhängigkeit der „Tschetschenischen Republik“ erklärt hatte. Im ersten Tschetschenien-Krieg kann die Region ihre Unabhängigkeit behaupten. 1999 beginnt der zweite Krieg.

Darum ging es:

Im September 1999 kommt es zu einer Anschlagsserie auf Wohnblöcke in Moskau und anderen Städten, bei denen Hunderte Menschen getötet werden.

Durch Anschlag zerstörtes Wohnhaus im Südosten Moskaus

Durch Anschlag zerstörtes Wohnhaus im Südosten Moskaus

Putin macht tschetschenische Terroristen dafür verantwortlich – und erklärt ihnen den Krieg. Offiziell deklariert er ihn als „Anti-Terror-Operation“.

Diese Bedrohung der individuellen Sicherheit – dass niemand wissen konnte, wann wird das nächste Wohnhaus zerstört – hat eine breite Zustimmung zu dieser Militäraktion in der russischen Bevölkerung entstehen lassen. Die Zustimmungswerte von Putin sind regelrecht explodiert. Für fast zwei Jahre war der Anteil der Russen, der den Krieg befürwortet hat, größer als der Anteil derer, die gegen diesen Krieg waren.
Professor Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler, Universität Innsbruck

Tschetschenien ist für Russland auch ein wichtiges Gebiet für den Export von kaspischen Energierohstoffen.

So ging es aus:

2000 wird der prorussische Mufti Achmad Kadyrow von Russland als Chef der Verwaltung eingesetzt. 2003 wird er zum Präsidenten Tschetscheniens gewählt. Dabei werden massive Verstöße gegen das Wahlrecht beobachtet. Während seiner Siegesfeier im Mai 2004 wird er durch einen Anschlag getötet.
Putin ernennt Kadyrows Sohn Ramsan 2007 zu dessen Nachfolger.

Wladimir Putin spricht mit Ramsan Kadyrow.

Wladimir Putin spricht mit Ramsan Kadyrow.

Kadyrow setzt Putins Interessen innerhalb eines „informellen Deals“ durch: Indem er die Region „befriedet“, erhält er die Republik Tschetschenien quasi als Lehen – und Zahlungen aus dem russischen Staatshaushalt.

Die Leute dort müssen akzeptieren, wie autoritär Ramsan Kadyrow herrscht. Ihr Leben wurde besser, zweifellos. Es wurde nicht gut, aber es wurde unter seiner Herrschaft dank russischer budgetärer Hilfe besser. So ist bei vielen eine Art apathische Resignation eingetreten und eine Akzeptanz der politischen Verhältnisse.
Professor Gerhard Mangott

2009 erklärt der damalige russische Präsident Dmitri Medwedjew den Tschetschenien-Krieg für beendet.

2008:
Georgien-Krieg

Hintergrund:

Abchasien und Südossetien sind Regionen in Georgien. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Anfang der 1990er Jahre haben sie einseitig ihre Unabhängigkeit erklärt. Der Akt wird weder von Georgien noch von der internationalen Gemeinschaft anerkannt. Das führt dort immer wieder zu Unruhen.

Darum ging es:

2008 verdichten sich Hinweise auf einen bevorstehenden Angriffskrieg von Russland auf Georgien. Abchasier und Ossetier erhalten vermehrt russische Staatsbürgerschaften und Russland stationiert Truppen in den Gebieten.

Zerstörte Häuser in der Nähe der südossetischen Hauptstadt Zchinwali

Zerstörte Häuser in der Nähe der südossetischen Hauptstadt Zchinwali

Im Sommer 2008 kommt es zu einer Eskalation der Konflikte in Südossetien. Um die Situation unter Kontrolle zu bringen, schickt Georgien Truppen in die Region.

Russland hat den damaligen georgischen Präsidenten Micheil Saakaschwili provoziert, einen Fehler zu machen. Das war dann die Rechtfertigung für die russische Seite, dort militärisch zu intervenieren.
Professor Gerhard Mangott

Russland reagiert mit einem Angriff auf Georgien und besetzt nicht nur Abchasien und Südossetien, sondern auch weitere Gebiete in dem Land. Moskau begründet seinen Angriff damit, dass es eigene Staatsbürger*innen in den Gebieten vor Aggressionen Georgiens schützen wolle. 

Diese Intervention hing mit der Entscheidung des Nato-Gipfels in Bukarest im April 2008 zusammen, Georgien die Mitgliedschaft zu versprechen. Das war für die russische Seite Anlass, diese territorialen Konflikte aufzuheizen: Weil es Nato-Politik ist, keine Länder mit einem offenen territorialen Konflikt in das Bündnis aufzunehmen. Es war gewissermaßen präventiv der Versuch, für Georgien den Weg in die Nato zu versperren.
Professor Gerhard Mangott

So ging es aus:

Nicolas Sarkozy mit dem damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew

Nicolas Sarkozy mit dem damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew

Der damalige französische EU-Ratspräsident Nicolas Sarkozy vermittelt einen Waffenstillstand zwischen Russland und Georgien, der bis heute anhält. Der Friedensplan beendet somit den Fünf-Tage-Krieg.

Noch im selben Jahr erkennt Russland die Unabhängigkeit von Abchasien und Südossetien an – entgegen dem Völkerrecht. Politisch, wirtschaftlich und finanziell sind die Regionen sehr stark von Russland abhängig.

Die georgische Regierung hat auf Abchasien und Südossetien fast keinen Einfluss mehr. Manchmal wird versucht, durch Anreize eine Wiederannäherung einzuleiten, aber das hat bis jetzt nicht funktioniert. Die beiden Territorien genießen ihre Unabhängigkeit und würden sie auf dem Verhandlungsweg wahrscheinlich nicht aufgeben.
Professor Gerhard Mangott

Die diplomatischen Beziehungen zwischen Russland und Georgien liegen seit dem Krieg auf Eis.

Seit 2014:
Annexion der Krim und Krieg in der Ostukraine

Hintergrund:

Seit dem Zerfall der Sowjetunion Anfang der 1990er-Jahre existiert die Ukraine wieder als eigenständiger Staat. Bis 2010 entwickeln sich die Beziehungen zwischen der Ukraine und der Nato positiv. Das sieht Russland als potenzielle Sicherheitsbedrohung – und fürchtet um seinen Einfluss.

Darum ging es:

Pro-europäischer Demonstrant in Kiew

Pro-europäischer Demonstrant in Kiew

Der damalige ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch stoppt 2013 die Verhandlungen zum Assoziierungsabkommen, das die Ukraine politisch und wirtschaftlich näher an den Westen binden soll. Es beginnen Demonstrationen gegen seinen prorussischen Kurs, die schließlich zu gewaltvollen Konflikten heranwachsen.

Im Februar 2014 besetzen russische Spezialeinheiten die Halbinsel Krim, um – so die Begründung – „russische Landsleute dort zu schützen“. Im März annektiert Russland die Krim völkerrechtswidrig.

Bewaffenete Soldaten vor einem Plakat mit der Aufschrift „Krim Russland“

Bewaffenete Soldaten vor einem Plakat mit der Aufschrift „Krim Russland“

Noch im selben Monat werden in der Region Donbass in der Ostukraine die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk ausgerufen, die international nicht anerkannt sind.

Prorussische Separatisten in Luhansk

Prorussische Separatisten in Luhansk

Im September 2014 vermittelt die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) mit dem Friedensplan „Minsk I“ einen Waffenstillstand, der jedoch nicht lange anhält.

Friedensgipfel in Minsk am 11. Februar 2015

Friedensgipfel in Minsk am 11. Februar 2015

Im Februar 2015 unterzeichnen die Ukraine und Russland ein neues Abkommen: „Minsk II“. Dadurch folgen nur noch marginale Gebietsverschiebungen. Ein Teil der Ostukraine wird von Kiew kontrolliert, ein Teil von den Separatisten. Die Kämpfe gehen jedoch weiter.

Seit 2015:
Krieg in Syrien

Hintergrund:

Kurz nach Ausbruch des Arabischen Frühlings beginnen 2011 auch in Syrien Proteste. Sie richten sich gegen den syrischen Machthaber und Diktator Baschar al-Assad.

Baschar al-Assad mit Wladimir Putin

Baschar al-Assad mit Wladimir Putin

Die Demonstrierenden fordern eine Demokratisierung des Landes. Doch der friedliche Konflikt entwickelt sich zu einem Bürgerkrieg.

Darum ging es:

Westliche Länder beziehen klar Stellung gegen das Assad-Regime. Russland hingegen versucht, durch diplomatischen Schutz und militärische Lieferungen an die syrische Regierung das Überleben des Regimes sicherzustellen.

2015 startet Russland eine militärische Intervention und rechtfertigt den Einsatz mit einem Hilfegesuch des syrischen Präsidenten.

Verluste, Desertionen, verfallende Moral – die syrischen Regierungsstreitkräfte sind unter Druck. Russland interveniert, um Assad zu halten:

Man wollte eine radikale islamistische Regierung verhindern. Man wollte verhindern, dass der Westen wieder einmal erfolgreich einen Regimewechsel durchführt. Man wollte sicherstellen, dass es eine Lösung des Syrien-Konflikts nicht ohne Russland geben kann. Man wollte demonstrieren, dass Russland seine Alliierten nicht fallen lässt in Zeiten der Krise. Und man wollte zeigen, dass man in der Lage ist, militärische Macht zu projizieren, auch außerhalb des ehemaligen sowjetischen Raumes.
Professor Gerhard Mangott

Mit dem Einsatz bekräftigt Putin nicht nur seinen Großmacht-Anspruch. Der sogenannte Islamische Staat in Syrien weckt auch die sicherheitspolitische Befürchtung, dass islamistische Kräfte im Nordkaukasus Unterstützung erhalten könnten.

Das ist die aktuelle Lage:

Durch die militärische Unterstützung Russlands kann sich Assad im Bürgerkrieg behaupten: Er regiert den Großteil des Landes. Seit 2011 haben aber 5,7 Millionen Menschen das Land verlassen. Militärische Auseinandersetzungen zwischen Regierungs- und Oppositionstruppen sowie islamistischen Milizen finden hauptsächlich im Nordwesten Syriens, in der Region Idlib, statt.

In den zurückeroberten Gebieten der Regierung kommt es immer wieder zu Unruhen, weil die Lebenssituation der Menschen dort einfach katastrophal ist. Russland hat an die Europäische Union appelliert, den Wiederaufbau zu finanzieren. Nur der Westen insgesamt weigert sich, etwas zum Wiederaufbau beizutragen, solange Assad an der Macht ist. Russland ist finanziell und wirtschaftlich nicht in der Lage und nicht willens, Syrien wieder aufzubauen, schon gar nicht nach den westlichen Sanktionen wegen des ukrainischen Kriegs.
Professor Gerhard Mangott

Seit 2022:
Angriffskrieg auf die Ukraine

Trotz Friedensbemühungen schwelt seit 2014 der Krieg im Donbass in der Ostukraine. 2019 beginnt Russland, dort Pässe auszugeben, 2022 erkennt Moskau die Unabhängigkeit der Gebiete Luhansk und Donezk völkerrechtswidrig an.

Am 24. Februar 2022 startet Putin einen Angriffskrieg auf die Ukraine.

Die Verleihung von russischen Pässen ist die Vorbereitung und letztlich dann auch die Begründung für eine militärische Aggression, die aber andere Beweggründe hatte.
Professor Gerhard Mangott

Diese Ziele verfolgt Russland in der Ukraine:

Russland sieht durch eine mögliche Nato-Mitgliedschaft der Ukraine die eigene Sicherheit gefährdet. Aber die Ukraine gilt auch als Teil des „Russkij Mir“, der russischen Welt:

Putin möchte, dass die Ukraine ein Land mit beschränkter Souveränität im Hinterhof Russlands wird. Er bemüht sich um die Sammlung der russischen Völker – der Russen, der Weißrussen und der Ukrainer – und möchte damit auch in die Geschichtsbücher eingehen. Insofern hat er, was die Ukraine betrifft, mittlerweile eine Art pathologische Obsession entwickelt und begreift es als seine historische Aufgabe, die Einheit der russischen Völker wiederherzustellen.
Professor Gerhard Mangott

Was haben die Kriege gemeinsam?

Während es Putin im Tschetschenien-Krieg darum ging, die innere Stabilität Russlands zu festigen, verfolgt er bei seinen späteren Kriegen vor allem zwei Ziele:

  • Ausbau der russischen Einflusszone in benachbarten Gebieten (Ukraine, Georgien) oder im Nahen Osten (Syrien)
  • Einschränkung des westlichen Einflusses, u. a.  als Reaktion auf die georgischen und ukrainischen Nato-Beitrittsgespräche

Dabei schreckt Putin auch nicht vor zivilen Opfern zurück. Laut Prof. Mangott nutzt er den Schrecken in der Zivilbevölkerung bewusst, „um den Rückhalt der feindlichen Truppen zu brechen“.

Zerstörtes Gebäude im ukrainischen Charkiw

Zerstörtes Gebäude im ukrainischen Charkiw

Außer im sehr kurzen Georgien-Krieg habe Russland immer gezielt Wohngebiete und gesundheitliche Infrastruktur in den Kriegsgebieten angegriffen, so Mangott.

Hierbei sollen nun auch Kämpfer aus Tschetschenien, die Kadyrowzy, helfen. „Ihr Einsatz in der Ukraine ist Teil der psychologischen Kriegsführung, da die Kadyrowzy für ihre Brutalität gefürchtet sind“, erklärt die Politologin Margarete Klein von der Stiftung Wissenschaft und Politik.

Trotz der Gemeinsamkeiten zwischen den Kriegen scheint der erneute Angriff auf die Ukraine ein Paradigmenwechsel auf russischer Seite zu sein:

Putin hat immer darauf geachtet, dass möglichst wenige russische Soldaten zu Schaden kommen, um den Rückhalt in seiner Bevölkerung nicht zu verlieren. Das ist jetzt ganz anders. Auch wenn wir die echten Verluste nicht kennen, ist der Verlauf für die russische Seite sicherlich blutig. Über Putin hieß es immer, er wolle Risiken vermeiden. Das scheint mit dem Krieg in der Ukraine Geschichte zu sein.
Professor Gerhard Mangott, Politikwissenschaftler, Universität Innsbruck

Quellen:
Interview mit Prof. Gerhard Mangott; UNHCR; Ukrainische Behörden; Bundeszentrale für politische Bildung; Stiftung Wissenschaft und Politik; Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg; Dekoder

Fotos:
reuters/Alexei Nikolsky; dpa; dpa/Mikhail Klimentyev/Presidential Press Service; reuters/Denis Sinyakov;  Epsilon/Getty Images; AP/Ivan Sekretarev; AP/Alexander Zemlianichenko Jr.; AP/Kirill Kudryavtsev; AP/Alexei Druzhinin; AP; reuters/Stringer; dpa/Sergey Dolzhenko

Karten:
Bundeszentrale für politische Bildung, 2017; Bundeszentrale für politische Bildung, 2021; ZDF, liveuamap.com, Stand: 18.03.2022

Redaktion:
Kathrin Wolff

Im Auftrag des ZDF:

Autoren:
Nadine Braun, Sebastian Specht

Redaktion:
Lea Deusch

Design:
Jens Albrecht