Dem deutschen Volke?

Welche Bevölkerungsgruppen im Bundestag fehlen -
und warum das ein Problem ist

Der Bundestag: Wer hier sitzt, entscheidet über Gesetze, setzt Themen und kontrolliert die Regierung. Politische Macht – verliehen vom deutschen Volk, das sie oder ihn gewählt hat.

Abgeordnete stehen damit in der Pflicht. Sie müssen die Interessen des Volkes repräsentieren. Nicht nur, um nach vier Jahren von zufriedenen Wahlberechtigten bestätigt zu werden. Sondern auch, weil das Grundgesetz sie dazu verpflichtet:

Doch hier wird es kompliziert:
Nicht alle Bevölkerungsgruppen sind ausreichend im Bundestag vertreten - manche sogar gar nicht.

Aber heißt das auch, dass deren Interessen nicht ausreichend repräsentiert werden?

Für Expertinnen und Experten wie Dr. Pola Lehmann, die zu politischer Repräsentation forscht, ist das Substanzielle entscheidend. Denn: Auch ein Mann kann im Bundestag die Interessen einer Frau vertreten. 

„Das ist eine ganz wichtige Idee unserer parlamentarischen Demokratie“, sagt Lehmann. „Mir ist wichtig, dass äußere Merkmale nicht das Entscheidende sind.“

Und dennoch sieht auch sie in ihrer Forschung Zusammenhänge: Dass es Bevölkerungsgruppen gibt, die im Parlament nur unzureichend repräsentiert sind - sowohl deskriptiv als auch substanziell.

Ein Blick auf vier Bevölkerungsgruppen

Menschen mit geringem Einkommen

Menschen mit geringem Einkommen

Bei den ursprünglich erlernten Berufen der Abgeordneten gibt der Bundestag diese Professionen am häufigsten an:  

Würden sich die Juristinnen und Juristen im aktuellen Bundestag zu einer Fraktion zusammenschließen, wären sie die zweitstärkste Kraft - 15 Abgeordnete vor der SPD. 

Mit Blick auf die Gesamtbevölkerung sind Juristinnen und Juristen überrepräsentiert: Nicht einmal 0,5 Prozent der Menschen in Deutschland haben einen Jura-Abschluss

Im Sinne der substanziellen Repräsentation kann das gut sein.

„Fachexpertise ist wichtig“, sagt die Diversitätsforscherin Prof. Dr. Andrea Dorothea Bührmann. Und die hätten Juristinnen und Juristen, gerade im Bereich der Gesetzgebung.

„Ich muss begreifen, was ein Beschluss für die gesamte Gesellschaft bedeuten könnte.“

Im Idealfall, sagt Bührmann, käme im Bundestag die Fachexpertise mit einer Erfahrungsexpertise zusammen.

Abgeordnete, die einen Beruf mit eher geringem Einkommen gelernt haben, sind im Bundestag aber kaum vertreten.

Und das hat durchaus substanzielle Folgen, wie Politikwissenschaftlerin Pola Lehmann konstatiert.

„Studien zeigen eindeutig, dass die Präferenzen von Personen mit geringerem Einkommen und geringerem Bildungshintergrund schlechter repräsentiert werden“, sagt sie.

Die Jüngsten und Ältesten fehlen

Die Jüngsten und Ältesten fehlen

In Deutschland leben fast 13 Millionen Menschen, die im Jahr 2004 oder danach geboren sind - bei der Wahl also minderjährig und damit nicht wahlberechtigt. Das sind 15,61 Prozent aller Menschen in Deutschland. 

Wären minderjährige Menschen im Bundestag so vertreten wie in der Bevölkerung, würden sie 111 Abgeordnete ausmachen.

Weder Bührmann noch Lehmann glauben, dass Kinder und Jugendliche zwingend in den Parlamenten vertreten sein müssen, damit ihre Interessen Gehör bekommen.

Beide fänden es aber gut, wenn es Gremien oder Jugendparlamente gäbe, die sich zu wichtigen Themen der Politik äußerten – etwa zu Fragen des Klimaschutzes, der Generationengerechtigkeit oder schulpolitischen Entscheidungen in der Corona-Krise.

Auch Menschen, die noch kein Wahlrecht haben, sollten mitreden können. Sie sind doch von vielen Entscheidungen auch betroffen.
Prof. Dr. Andrea Dorothea Bührmann, Direktorin am Institut für Diversitätsforschung an der Georg-August-Universität in Göttingen

Auch wer „Jung sein“ etwas weiter definiert und auf die Altersgruppe der unter 30-Jährigen schaut – das waren zu Jahresbeginn fast 26 Millionen Menschen in Deutschland –, stellt fest: Junge Menschen sind im Bundestag dramatisch unterrepräsentiert.

Aber nicht nur junge, auch besonders alte Menschen sind im Bundestag nicht vertreten.

Mehr als fünf Millionen Menschen in Deutschland sind 1939 oder davor zur Welt gekommen.

Umgerechnet auf den Bundestag würden diese Jahrgänge 44 Abgeordnete stellen. Tatsächlich sitzt im Bundestag niemand, der 1939 oder davor geboren wurde. Der aktuell älteste Abgeordnete, der AfD-Politiker Wilhelm von Gottberg, ist am 30. März 1940 geboren.

Zu wenige Frauen, zu viele Männer

Zu wenige Frauen, zu viele Männer

In Deutschland leben mehr als 42 Millionen Frauen. Das sind 50,66 Prozent der Bevölkerung.

Im Bundestag müssten also 359 Frauen sitzen. 

Tatsächlich sind in der aktuellen Legislaturperiode aber nur 223 Abgeordnete weiblich.

Der Unterschied ist frappierend – und immer wieder Streitpunkt. Erst im Dezember 2020 hatte das Bundesverfassungsgericht eine Klage von zehn Frauen zurückgewiesen. Sie wollten, dass der Staat alle Parteien dazu zwingt, ebenso viele Frauen wie Männer aufzustellen. 

Das Überraschende: Für die substanzielle Repräsentation ist es nach aktuellen Forschungsergebnissen nicht allein entscheidend, ob Frauen gemäß ihres Bevölkerungsanteils im Parlament vertreten sind. Wichtig, sagt Lehmann, sei auch die Höhe der Wahlbeteiligung unter Frauen.

Parteien repräsentieren zu einem sehr großen Teil die Personen, von denen sie gewählt werden. Wenn eine bestimmte Bevölkerungsgruppe weniger wählen geht, hat das Auswirkungen darauf, wie sie repräsentiert wird. Wenn mehr Frauen wählen gehen, steigt deren Repräsentation im Parlament - unabhängig davon, wie viele Frauen im Parlament sind.
Dr. Pola Lehmann, Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Keine Menschen ohne
deutschen Pass

Keine Menschen ohne deutschen Pass

In Deutschland leben nach Angaben des Statistischen Bundesamts fast 10,6 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit. Das sind 12,73 Prozent der Bevölkerung. Menschen, die hier leben, zum Teil arbeiten, Steuern zahlen, aber nicht wählen dürfen – und nicht im Bundestag vertreten sind.

Wären Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit gemäß ihres Bevölkerungsanteils im Bundestag vertreten, würden sie 90 der 709 Abgeordneten stellen.

Aktuell dürfen Menschen ohne deutsche Staatsangehörigkeit weder wählen noch gewählt werden. Dabei liege darin eine Chance, sagt Bührmann. Für die Zugewanderten, aber auch für die Demokratie.

Das könnte im weitesten Sinne Inklusion bedeuten - und nicht nur Integration.
Prof. Dr. Andrea Dorothea Bührmann, Direktorin am Institut für Diversitätsforschung an der Georg-August-Universität in Göttingen
  • Integration:
    Neue Personen orientieren sich an bestehenden Strukturen und Prozessen.
  • Inklusion:
    Strukturen und Prozesse können sich mit Blick auf neue Personen verändern.
Wenn wir plötzlich 13 Prozent mehr Wahlberechtigte hätten, hätten wir wieder neue Perspektiven. Wir könnten von dem Wissen, wie Herausforderungen in anderen Gesellschaften bewältigt werden, profitieren.
Prof. Dr. Andrea Dorothea Bührmann

Warum mehr deskriptive Repräsentation gut wäre

Lehmann sieht zum einen ganz praktische Vorteile eines diverseren Parlaments.

  • Mehr Perspektiven bieten die Möglichkeit, mehr Themen auf die Tagesordnung zu setzen.
  • Bei Regierungsparteien könnten die neuen Perspektiven Einfluss auf die Realpolitik nehmen.
  • Angehörige von Minderheiten können in der Fraktion Lobbyarbeit betreiben und bislang unbesetzte Themen sichtbar machen.
So wie der Bundestag funktioniert, kommt den Parteien eine große Bedeutung zu. Nur wer Teil einer Fraktion ist, kann wirklich etwas bewirken.
Dr. Pola Lehmann, Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin

    Bührmann verweist zudem auf die symbolische Bedeutung.

    Wie wichtig die ist, hat erst im Mai eine Studie gezeigt. Demnach denken 35 Prozent der Menschen in Deutschland, das Land sei nicht demokratisch regiert. 38 Prozent glauben, die Politik vertrete vor allem die Interessen einer kleinen Gruppe.

    Mit Blick auf die Polarisierung der Gesellschaft hofft Bührmann deshalb auf mehr Diversität im Bundestag – und damit auf neue Rollen- und Vorbilder.

    Den Betroffenen, den Wählenden zu verdeutlichen: Ihr müsst euch einmischen und ihr könnt euch einmischen – das ist am leichtesten, wenn ich sehe: Der oder die hat es doch auch geschafft.
    Prof. Dr. Andrea Dorothea Bührmann, Direktorin am Institut für Diversitätsforschung an der Georg-August-Universität in Göttingen
    Wir sind in einer historischen Situation: Durch die Corona-Pandemie leben wir völlig anders. Die Normalität ist umstritten und wir haben eine starke Polarisierung. Da ist es noch wichtiger für die Politik, Menschen abzuholen. Und man holt sie besser ab, wenn sie den Eindruck haben, auch angemessen repräsentiert zu werden.
    Prof. Dr. Andrea Dorothea Bührmann, Direktorin am Institut für Diversitätsforschung an der Georg-August-Universität in Göttingen

    Wie gelingt substanzielle Repräsentation aktuell in Deutschland?

    „Zu einem Großteil gelingt sie“, sagt Pola Lehmann. Neue Studien zu Wahlversprechen zeigten, dass etwa 60 Prozent in Deutschland umgesetzt würden.

    „Natürlich kann man das so bewerten und sagen: 60 Prozent – das ist nicht viel.“ Aber: „Regierungen bestehen aus Koalitionen, und Koalitionen bedingen immer ein Aushandeln von Kompromissen“, sagt Lehmann.

    Das führe zwar häufig zu Frustration bei Wählenden, zeige aber kein Parteienversagen. „Die Parteien handeln in dem System, in dem sie agieren. Und das macht Kompromisse notwendig.“

    In der Großen Koalition habe das die regierenden Parteien in die Mitte gerückt, was Wählerinnen und Wähler an den politischen Rändern stärker frustrieren könne.

    „Aber wenn man auf die Repräsentation der Gesamtbevölkerung schaut, ist die Mitte kein schlechter Punkt, weil sie in der Summe die kleinstmögliche Distanz zu allen einzelnen Wähler*innen ergibt“, sagt Lehmann. 

    Ein weiterer Aspekt, der Lehmann wichtig ist: In ihrer Gesamtheit seien Parteien durchaus breiter aufgestellt als in den Bundestagsfraktionen. Die Mitglieder an der Basis würden andere Perspektiven und Aspekte einbringen – und den Abgeordneten so ermöglichen, eine breitere Gesellschaft zu repräsentieren.