Glück oder Können?

Wie man Weltmeister in „Mensch ärgere Dich nicht“ wird

Phillipp Rathunde ist seit Oktober Weltmeister. Und wer mit ihm spricht, merkt schnell: Dass er jetzt der Beste der Welt sein soll, ist für ihn nicht nur ein bisschen kurios, eine gute Geschichte für Bekannte und Verwandte. Nein, für Rathunde ist der Titel auch ein absurder Zufall – er hatte an dem Tag einfach „Glück“, sagt er.

Ist Rathunde nun sehr bescheiden? Oder reicht das manchmal wirklich, um Weltmeister zu werden – Glück?

Bei „Mensch ärgere Dich nicht“, dem Brettspiel, das in Deutschland fast jedes Kind kennt, entscheidet der Würfel, wie weit die Spielfiguren ziehen dürfen. Der Zufall also, das Glück. Und die Frage könnte damit beantwortet sein, die Geschichte hier aufhören – wenn da nicht einer wie Udo Schmitz wäre, der „Mensch ärgere Dich nicht“-Meisterschaften veranstaltet, und sagt:

Am Ende sind es immer die gleichen, die weit nach vorne kommen und Erfolg haben.
Udo Schmitz, Spielpädagoge

Was also macht einen wie Rathunde zum Weltmeister? Mit welchen Strategien gewinnt er? Und: Können wir das auch?

Fünf Tipps, um besser zu spielen

Schmitz, von Beruf Spielpädagoge, veranstaltet seit 2012 bundesweit Turniere, immer in Kooperation mit dem „Mensch ärgere Dich nicht“-Hersteller. Bei seinen Meisterschaften beobachtet er immer wieder Strategien, die zum Erfolg führen.

Was das konkret heißt, erklären Schmitz und Rathunde hier am Beispiel Blau.

Erstens: Das Spielfeld beobachten

Wer unaufmerksam ist, verliert – das betonen sowohl Veranstalter Schmitz als auch Weltmeister Rathunde. Um Chancen zu erkennen und wahrzunehmen, müssen Spieler*innen das gesamte Spielfeld im Blick behalten, sagen sie. Dabei seien drei Grundfragen hilfreich:

1. Wo droht meinen Figuren Gefahr?
2. Wo bin ich für andere gefährlich?
3. Wie kann ich Chancen kreieren?

Zweitens: Gefahren vermeiden

Risikoarm spielen heißt für Schmitz: gegnerische Figuren beobachten, mindestens sechs Felder Vorsprung haben und gegnerische Startfelder vermeiden.

Blau ist in unserem Beispiel in einer „sehr komfortablen Ausgangslage“, erklärt Rathunde. „Unserer führenden Figur droht nur dann eine Gefahr, wenn Rot eine 6 und eine 3 würfeln sollte.“ 

Gelb habe durch die eigene Figur in Zielnähe kaum Interesse daran, der blauen Figur nachzujagen. „Damit kann Blau in dieser Runde abwarten und ist nicht gezwungen, an der roten Figur vorbeizuziehen und sich einem höheren Risiko auszusetzen“, sagt der Weltmeister.

Drittens: Gefahren erzeugen

Für Rathunde ist „schlagen“ eine Pflicht – auch wenn es nach den offiziellen Regeln und damit auch bei den Turnieren keinen Schlagzwang gibt. Rathunde empfiehlt, „eine Figur durchzubringen und die anderen erstmal stehenzulassen, um vorbeikommende Figuren abzuräumen“.

In unserem Beispiel bildet Blau vor dem eigenen Startfeld eine kompakte Mauer. Die gelbe Figur könnte sowohl bei einer 4 als auch einer 5 von Blau geschlagen werden.

Zudem hat Blau mit seinem Jäger die Möglichkeit, die führende gelbe Figur kurz vor dem Ziel noch zu schlagen. Ob man einer Figur gezielt nachjagt, ist für Weltmeister Rathunde allerdings vom Spielfortschritt abhängig. Der richtige Zeitpunkt für ihn: „Wenn andere bereits mehrere Figuren im Ziel haben“ – und das Spiel zu enden droht.

Viertens: Das Glück erzwingen

Wer geschickt und vorausschauend spiele, sagen Schmitz und Rathunde, schaffe im Laufe des Spiels möglichst viele Situationen, in denen man mit möglichst vielen Würfen etwas erreichen könne. Die Erfolgsformel: Je mehr Optionen ich habe, desto weniger Würfelglück brauche ich.

Im Beispiel kann Blau mit jedem Wurf außer einer 1 einen direkten Einfluss auf den Spielverlauf nehmen:

2: Blau schlägt Rot, Weg zum Ziel frei
3: Blau schlägt Gelb kurz vor dem Ziel
4: Blau schlägt zweite Figur von Gelb
5: Blau schlägt zweite Figur von Gelb
6 + 1, 2, 3 oder 4: Blau bringt erste Figur ins Ziel

Fünftens: Niemanden ärgern …

… denn: Je mehr die Mitspieler*innen es auf einen abgesehen haben, desto schwieriger ist es, erfolgreich zu sein. Zwar herrsche bei den Turnieren Fair Play, sagt Schmitz, doch Bündnisse seien möglich.

„Jetzt an Weihnachten haben wir in der Familie mal wieder ‚Mensch ärgere Dich nicht‘ gespielt“, erzählt Rathunde. „Da wollten natürlich alle den Weltmeister schlagen“, sagt er. Die Folge: Rathunde wurde nur Zweiter, seine Schwägerin ist nun Weltmeister-Bezwingerin.

Alles eine Frage der Wahrscheinlichkeit

Für Veranstalter Schmitz ist Erfolg im „Mensch ärgere Dich nicht“ am Ende „70 Prozent Glück, 30 Prozent Strategie“. Das zeige die Erfahrung.

So genau will der Mathematiker und Spieleexperte Jörg Bewersdorff das nicht beziffern, das sei unmöglich und von zu vielen Faktoren abhängig. Er sieht die Optionen für geschickte Eingriffe bei „Mensch ärgere Dich nicht“ aus mathematischer Sicht zwar als begrenzt an – aber als durchaus vorhanden:

„Um Geschick festzustellen, kann ich mir anschauen: Wie gut schneidet der letztjährige Meister in diesem Jahr ab?“, sagt Bewersdorff. Wäre „Mensch ärgere Dich nicht“ ein reines Zufalls-Spiel, so Bewersdorff, „würde man überhaupt keinen Zusammenhang, keine Korrelation beim Ergebnis feststellen.“

Doch genau diese Zusammenhänge ließen sich herstellen, sagt Schmitz – und nennt etwa die zweimalige Meisterin aus Mecklenburg-Vorpommern, die ihren Titel erst verteidigt hat und im Jahr darauf wieder ins Finale kam. Oder aber die Spieler*innen aus Thiendorf in Sachsen, die einen Verein gegründet haben, regelmäßig spielen – „und laufend bei den Turnieren die Titel abräumen“, wie Schmitz sagt.

Ob auch Rathunde seinen Erfolg wiederholen kann? Der Weltmeister muss lachen. „Wenn die nächste Weltmeisterschaft wieder in Berlin ist, dann will ich es definitiv versuchen“, sagt er. Weit reisen möchte er für eine Titelverteidigung aber nicht. „Beim Spielen geht es ja auch eher darum, einen lustigen Tag und Spaß zu haben“, findet Rathunde. Und beides, sagt er, habe er nun ja gehabt.

Zum Spiel

„Mensch ärgere Dich nicht“ ist 1910 erschienen und seitdem fast 100.000.000 Mal verkauft worden. Noch immer verkauft Hersteller Schmidt Spiele nach eigenen Angaben etwa 100.000 Exemplare jährlich.

Die offiziellen Regeln haben sich seit Erscheinen nicht geändert. Die meisten Familien spielen allerdings nach eigenen Regeln. Einige davon tauchen auch als Spielvarianten im offiziellen Regelwerk auf – etwa das „Dreimal würfeln“ oder der „Schlagzwang“.

Turniere gäbe es schon seit Erscheinen des Spiels, sagt der Spielpädagoge Udo Schmitz. Seit 2012 gebe es aber den Versuch, die Meisterschaften auf Landes-, Bundes- und Weltebene unter einem Dach und in Kooperation mit dem Hersteller zu koordinieren.

Das Besondere für Schmitz: An den Turnieren könne jede*r teilnehmen, die jüngsten Spieler*innen seien meist 7 oder 8, die ältesten fast 90. „Da kommt jedes Alter zusammen an den Tisch, alle haben einfach Spaß“, sagt Schmitz.

Zur Geschichte

Im sächsischen Dohna spielen an diesem Wochenende 185 Menschen um die 14. Deutsche Meisterschaft im „Mensch ärgere Dich nicht“. Als eine Redakteurin den Termin in einer Planungssitzung vorliest, sind die Kolleg*innen neugierig. Sie alle haben früher selbst „Mensch ärgere Dich nicht“ gespielt, mit der Oma oder jetzt mit eigenen Kindern. Kann man da wirklich der oder die Beste werden? Und gibt es Taktiken, die zum Erfolg führen?

Quellen:  
Interviews mit Jörg Bewersdorff, Udo Schmitz und Phillipp Rathunde; Bewersdorff J. (2018). Glück, Logik und Bluff: Mathematik im Spiel – Methoden, Ergebnisse und Grenzen (7. Auflage); Schmidt Spiele

Fotos:
iStock.com/justinroque

Autor:
Kevin Schubert

Im Auftrag des ZDF:

Redaktion:
Marielle Klein

Design:
Jens Albrecht