Der Fall Lübcke

Einzeltäter oder rechtsextreme Strukturen?

Zum ersten Mal seit 1945 wurde in Deutschland ein Politiker mutmaßlich von Rechtsextremen ermordet: 

In der Nacht zum 2. Juni 2019 wird der Kasseler Regierungspräsident Dr. Walter Lübcke (CDU) auf der Terrasse seines Hauses in der Nähe von Kassel erschossen.

Zuvor setzte sich Lübcke offen für Flüchtlinge und ihre Integration ein.

Eine Hautschuppe auf der Kleidung des Opfers bringt die Ermittler auf die Spur von Stephan Ernst.

Was wissen wir über Stephan Ernst?

1992 verletzt Ernst im Hauptbahnhof von Wiesbaden einen türkischen Imam lebensgefährlich mit einem Messer. Ein Jahr später verübt er einen Bombenanschlag auf eine Asylbewerberunterkunft in der Nähe.

Er wird zu sechs Jahren Haft verurteilt.

Der Gerichtsgutachter stellte eine Borderline-Persönlichkeitsstörung fest.

Einige Merkmale der Krankheit:

•	emotionale Instabilität  •	mangelnde Impulskontrolle •	psychisch labil

Der 1. Mai 2009 ist eine Zäsur im Leben von Stephan Ernst: Nach gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Rechtsextremen und Teilnehmern einer Gewerkschaftsdemonstration zieht er sich ins Privatleben zurück.

Er baut sich eine bürgerliche Existenz auf, gründet eine Familie und verbringt seine Freizeit mit Bogenschießen.

Doch Stephan Ernst wurde wieder zum Täter

Sie sind für die Szene besonders attraktiv […], weil sie in ihrer Persönlichkeit eine Lücke – eine Leere – haben, die man füllen kann mit Ideologie.
Martin Rettenberger, Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden

Stephan Ernst legt nach seiner Festnahme ein umfassendes Geständnis ab. Später widerruft er sein Geständnis und beschuldigt seinen langjährigen Weggefährten Markus H., geschossen zu haben.

Markus H. ist ein Arbeitskollege von Stephan Ernst.

Beide sind Mitglied in demselben Schützenverein in Sandershausen bei Kassel.

Die beiden verbindet eine Freundschaft, in der H. den Ton angegeben habe.

Also die müssen ein sehr enges Verhältnis haben. Auf den Aufmarschbildern, die ja jetzt auch bekannt sind, z. B. in Chemnitz […] da findet man dieses Duo.
Martina Renner, (Die Linke) Mitglied im Innenausschuss des Bundestages

Was noch über Markus H. bekannt ist:

Seine Ex-Lebensgefährtin skizziert Markus H. als rechtsextremen Überzeugungstäter, bezeichnet ihn als „Reichsbürger“ und nimmt ihn als „völlig psychopathisch“ wahr. Auch ehemalige Weggefährten aus der Nazi-Szene beschreiben ihn als Agitator, der zu politischen Straftaten aufstacheln würde.

Markus H. "Reichsbürger", "völlig psychopathisch", "Agitator" stachelt zu politischen Straftaten auf

Die Stadt Kassel verweigerte Markus H. zunächst den Waffenbesitz, doch er klagt 2012 vor Gericht.

Die hessischen Innenbehörden liefern der Stadt und dem Gericht nur unvollständige Informationen zur rechtsextremen Vergangenheit von Markus H.

Er sei 2009 das letzte Mal auffällig geworden. Juristisch fehlen also die Gründe für eine Verweigerung des Waffenbesitzes.

Dabei hatte der Verfassungsschutz Erkenntnisse über rechtsextreme Aktivitäten von Markus H. sogar bis ins Jahr 2011.

 

Gab es Verbindungen zum Nationalsozialistischen Untergrund (NSU)?

Der NSU spähte mögliche Opfer aus und mordete schließlich auch in Kassel.  

Wie die Opfer bei den NSU-Morden wurde auch Walter Lübcke mit einem Kopfschuss hingerichtet.

Nachdem Halit Yozgat 2006 in Kassel vom NSU ermordet wurde, stellt die Polizei eine Falle:

Sie richtet eine Internetseite mit Informationen zur Tat ein und beobachtet, wer die Seite aufruft. Markus H. tappt in die Falle.

Er wird vorgeladen, ihm werden nur vier banale Fragen gestellt, dann geht er wieder.

Sein rechtsextremer Hintergrund spielt bei der Befragung keine Rolle.

Also entweder hat man, wie immer wieder behauptet wurde, in der rechten Szene gar nicht ermittelt, […] oder man wollte Herrn H. selbst schützen.
Hermann Schaus, Die Linke, Mitglied des Landtages

Und es gibt bei H. womöglich sogar eine weitere Verbindung zum NSU.

Im Brandschutt der Wohnung des NSU-Trios finden Ermittler 2011 umfangreiche Adresssammlungen.

Auf der Liste ist auch der Name von Walter Lübcke – zwei Mal aufgeführt.

In den Unterlagen finden sich zudem die Daten von drei Waffenhändlern.

Mindestens einer hatte nachweislich enge Verbindungen zu einem Rechtsterroristen.

In Geschäftsunterlagen von Markus H. tauchen diese Waffenhändler wieder auf.

Offene Fragen im Fall Lübcke

Die Bundesanwaltschaft hat Ende April Anklage erhoben Ermittler sehen in Stephan Ernst den Todesschützen.

Laut Bundesanwaltschaft habe Stephan Ernst seit Mai 2017 mehrfach das Haus seines künftigen Opfers ausgespäht. 

Hat Markus H. Stephan Ernst manipuliert? Und wer sind mutmaßliche Mitwisser oder Auftraggeber

Auch darauf sollte der Prozess vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main Antworten geben.

Quellen:
dpa; epd; Polizeiliche Vernehmung; Polizeidokument; Gerichtsurteil

Fotos:
dpa, Rainer Fromm

Autorinnen:
Alisa Keil
Renate Wolter

Redaktion:
Jennifer Werner
Karsten Kaminski

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