Warum fehlt überall Personal?
Der aktuelle Fachkräftemangel ist erst der Anfang
Es sind 30 Grad, aber das Freibad hat zu – Bademeister*innen fehlen. Ob der Sommerurlaub klappt, ist ungewiss – die Lufthansa und ihre Töchter streichen Hunderte Flüge.
Plötzlich scheint überall Personal zu fehlen. Nicht nur im Freizeitbereich. Die Kita kann keine Kinder mehr aufnehmen, weil sie keine Erzieher*innen findet. Der Bäcker schließt früher, weil Verkäufer*innen fehlen. Und wer Handwerker*innen braucht, muss viel Geduld haben. Was ist auf dem deutschen Arbeitsmarkt passiert?
Zurzeit sind mehr als 1,7 Millionen Stellen in Deutschland offen – ein Rekordwert. Die Arbeitslosigkeit ist gering. Auf 100 Arbeitslose kamen 2003 nur 10 offene Stellen. Heute sind es 72.
2003
..
2022
(1. Quartal)
Expert*innen zufolge ist mittlerweile für eine solche Entwicklung eine gute Konjunktur nicht immer erforderlich. Die Alterung der Gesellschaft wirkt sich zunehmend auf den Arbeitsmarkt aus. Firmen versuchen, die begehrten Arbeitskräfte zu halten.
Während früher die Mehrzahl der Neueinstellungen auf Arbeitslose zurückging, wechseln heute 60 Prozent von einem Job direkt in den nächsten. „Das hat erhebliche Auswirkungen auf das Selbstverständnis der Arbeitssuchenden“, sagt Dr. Alexander Kubis vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. „Fachkräfte sind rar und werden gesucht. Das alles ist ein sich selbst verstärkender Prozess.“
Wie stark der Arbeitskräftemangel im Alltag zu spüren ist, hängt von der Branche ab. In vielen Bereichen kommen auf 100 bei der Arbeitsagentur gemeldete offene Stellen weniger Arbeitslose – in der Altenpflege beispielweise nur 35. Im Lebensmittelverkauf ist es nicht so eng.
Altenpflege
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Klempnerei, Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik
Lebensmittelverkauf
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Altenpflege
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Klempnerei, Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik
Lebensmittelverkauf
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Für Kubis ist es nicht ungewöhnlich, wenn hier und da Stellen nicht gleich besetzt werden können. Einen Fachkräftemangel gebe es erst, wenn sich das Problem langfristig nicht beseitigen lasse.
Einen echten Engpass haben wir im Gesundheitswesen. Ein Problem dort: Die Einnahmen sind gedeckelt, die Löhne können bei knappem Personal nicht einfach erhöht werden. Auch das Handwerk kämpft kräftig, hier müssen die Betriebe an ihrer eigenen Attraktivität arbeiten.
Im Gesundheitswesen wird sich das Problem eher verschärfen, weil die Gesellschaft altert. „Dadurch nimmt die Belegschaft ab und die Nachfrage steigt“, sagt Kubis. „Qualifizierte Zuwanderung ist ein Weg, dem entgegenzuwirken. Zuvorderst ist es aber auch wichtig, die Attraktivität der Branche generell für potenzielle Bewerberinnen und Bewerber zu steigern.“
Auch beim Handwerk ist die Nachfrage groß. Nach Einschätzung der Gewerkschaft IG Bau ist allein der Wohnungsbau mit Neubau, Umbau sowie klima- und seniorengerechter Sanierung ein Mammutprogramm für die Firmen, das mit den vorhandenen Kräften kaum zu schaffen sei. Zudem hätten die Unternehmen jahrelang die Löhne gedrückt und sich mit Dumpingpreisen gegenseitig unterboten. Daher seien viele Gesell*innen in die Industrie gewechselt:
Statt harter Arbeit bei Wind und Wetter, vielen Überstunden, stundenlanger Pendelei zu immer neuen Baustellen erwarten sie dort klimatisierte Werkhallen und feste und planbare Arbeitszeiten.
Neben diesen langfristigen Entwicklungen gibt es auch Branchen, in denen der Fachkräftemangel eine Folge von Corona ist. Die Ausbildung von Rettungsschwimmer*innen beispielsweise lag in der Pandemie fast brach – jetzt fehlen sie in den Freibädern. Und in der Luftfahrt und Gastronomie wurde viel Personal entlassen.
Die Unternehmen haben gedacht, sie finden schnell wieder Leute. Aber jetzt suchen alle gleichzeitig. Die früher hier Beschäftigten haben gesehen, dass ihr Job nicht so krisenfest ist wie gedacht, und haben sich inzwischen zum Teil umorientiert.
Viele Branchen haben derzeit Probleme, Personal zu finden. Neueinstellungen sind für Firmen vor allem aus diesen Gründen schwierig:
Der Arbeitsmarkt hat sich nie für alle gedreht. Arbeitslose, gerade mit fehlender oder länger zurückliegender Berufsausbildung bzw. mit einer Ausbildung in Bereichen mit schlechten Arbeitsmarktaussichten, haben es nach wie vor sehr schwer am Arbeitsmarkt.
Arbeitslose nach Qualifikation*
⬤ ohne Berufsabschluss |
⬤ betriebliche / schulische Ausbildung
⬤ akademische Ausbildung
Offene Stellen nach Qualifikation**
⬤ ohne Berufsabschluss |
⬤ betriebliche / schulische Ausbildung|
⬤ akademische Ausbildung
Die besten Aussichten auf dem Arbeitsmarkt hat man laut Kubis mit einer sehr guten Qualifikation. „Neben der Meister- und Technikerausbildung bereitet ein Masterstudium durch seine modulare Ausbildung auf viele Tätigkeitsfelder vor und erhöht dadurch die Chancen am Arbeitsmarkt.“ Aber: „Auch bei den Akademikerinnen und Akademikern arbeiten viele später nicht in dem Job, den sie studiert haben.“
Doch während in der Vergangenheit Arbeitslosigkeit das bestimmende Thema war, dürfte es in Zukunft der Fachkräftemangel sein. Der Grund: Deutschland altert.
1991
2020
⬤ unter 15 | ⬤ 15 – 66 | ⬤ ab 67
2035
1991
⬤ unter 15 | ⬤ 15 – 66 | ⬤ ab 67
2020
⬤ unter 15 | ⬤ 15 – 66 | ⬤ ab 67
2035
⬤ unter 15 | ⬤ 15 – 66 | ⬤ ab 67
In den vergangenen Jahren ist das Erwerbspersonen-Potenzial – also die Zahl der Menschen, die für einen Arbeitsplatz zur Verfügung stehen - stark gestiegen. Die Zuwanderung war hoch, mehr Frauen und Ältere haben sich für einen Job entschieden. Doch Expert*innen erwarten, dass die Zahl der möglichen Arbeitskräfte ab 2025 zunächst langsam, dann immer schneller sinkt:
Erwerbspersonen-Potenzial in Deutschland
Quelle: IAB
Was kann Deutschland gegen den Fachkräftemangel tun? Vier Ansätze:
Zuwanderung: Für Kubis ist sie „der stärkste Hebel, um den Folgen des demografischen Wandels zu begegnen“. Er hält es für realistisch, dass pro Jahr 100.000 Menschen mehr nach Deutschland ein- als auswandern. „Wenn wir das Erwerbspersonen-Potenzial halten wollten, bräuchten wir das Vierfache.“
Doch Zuwanderung ist kein Selbstläufer. Man müsse in Sprachkurse und Ausbildung investieren und bei der Anerkennung von Abschlüssen weiterkommen, sagt Kubis. Zudem kehrten viele Menschen zurück, sobald sich die wirtschaftliche oder politische Lage in ihrem Heimatland gebessert habe. „In Tschechien beispielsweise ist die Arbeitslosenquote heute ähnlich niedrig wie in Bayern“, sagt der Arbeitsmarktforscher. Im Wettbewerb um Arbeitssuchende aus Drittstaaten kämpfe Deutschland mit anderen EU-Mitgliedern und den USA – „und da sind die Karrierechancen deutlich höher“.
Attraktive Arbeitsplätze: Dazu gehören für Kubis interessante Tätigkeiten mit einer guten Bezahlung, mit „Fortbildungsmöglichkeiten, Entwicklungsperspektiven und Werten, hinter denen auch die Beschäftigten stehen können“. Hinzu kämen familienfreundliche und verlässliche Arbeitszeiten. Auch Gesundheitsvorsorge in den Betrieben wird laut Kubis wichtiger, damit diese ihre Leute nicht wegen Krankheiten vorzeitig verlieren.
Ausbau der Kinderbetreuung: Dadurch verbessert sich die Vereinbarkeit von Familie und Beruf – Eltern könnten mehr Stunden arbeiten.
Qualifizierung und Weiterentwicklung der Ausbildung: Manche Berufsbilder könnten modernisiert werden, um ihr Image zu verbessern, sagt Kubis. „Nach wie vor gibt es in allen Altersgruppen zu viele Menschen, die keinen Ausbildungsabschluss erwerben.“
Doch ganz beheben lassen wird sich der Fachkräftemangel nicht.
Das Arbeitskräftereservoir wird sich auch mit der langfristig erwartbaren Nettozuwanderung von rund 100.000 Menschen pro Jahr verkleinern. Auch wenn uns Integration, Qualifikation sowie Vereinbarkeit von Familie und Beruf perfekt gelingen und wir alle heute Arbeitslosen in eine adäquate Beschäftigung bringen, der demografische Effekt kann damit nicht vollständig kompensiert werden. Um das Erwerbspersonen-Potenzial zu halten, brauchen wir eine Nettozuwanderung von rund 400.000 Menschen pro Jahr.
Quellen:
Interview mit Dr. Alexander Kubis, Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
IAB-Stellenerhebung
Bundesagentur für Arbeit
Statistisches Bundesamt
IG Bau
Paritätischer Wohlfahrtsverband: Kita-Bericht 2022
Foto-Quellen:
Wolfram Murr; Monika Skolimowska/dpa-Zentralbild/dpa;
Julian Stratenschulte/dpa;
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Axel Heimken/dpa;
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Autorin: Kathrin Wolff
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