Wie vergiftet ist der Wahlkampf auf
Facebook und TikTok?

Was die Datenanalyse zur Europawahl verrät

In politischen Inhalten auf Facebook und TikTok geht es oft nicht sachlich zu. Es geht um Emotionen, um Stimmungen, sogar um Feindbilder. Die Algorithmen der Plattformen unterstützen Populismus zumindest indirekt, denn: Wut fördert Interaktion, Interaktion fördert Reichweite.

Wie gehen die Parteien und ihre Politiker*innen damit um? Setzen sie auch auf Provokation statt inhaltlichen Wettbewerb? „Wir gegen die“ statt „Das bekommst du, wenn du uns wählst“ als Wahlkampf-Strategie?

Studierende der TU Dortmund haben gemeinsam mit ZDFheute 456 Posts von SPD, CDU/CSU, Grünen, FDP, AfD und BSW eine Woche vor und nach der Europawahl (3. bis 16. Juni) analysiert – und zeigen hier, wie die Parteien und ihre Spitzenkandidat*innen im Wahlkampf über Soziale Medien kommunizieren.

Wir begleiten Max, einen fiktiven Erstwähler, und seine Mutter Julia, wie ihnen politische Inhalte auf TikTok und Facebook gezeigt werden.

Zum Beispiel dieses Video auf TikTok:

tiktok.com/@maxkrah_doktorrechts

AfD-Spitzenkandidat Maximilian Krah über den Ukraine-Krieg. Er postete trotz Auftrittsverbots vor der Europawahl Videos auf TikTok.

Max ist 16 Jahre alt und hat schon länger einen eigenen TikTok-Account.

Für Max ist der Schultag geschafft, er hat seine Hausaufgaben erledigt und kann sich nun seiner Lieblingsbeschäftigung widmen. Er liegt auf seinem Bett und wischt durch seinen TikTok-Feed. Ihm werden noch andere Videos von der AfD angezeigt.

Zur selben Uhrzeit ist seine Mutter Julia von der Arbeit nach Hause gekommen. Nachdem sie ihre Tasche abgelegt hat, setzt sie sich kurz an den Esstisch und öffnet die Facebook-App. Sie wischt sich durch ihren Feed, bis sie bei einem Post innehält. Ihr wird etwas von der SPD angezeigt – das ist ihr noch nie passiert. Sie sieht, wie die Spitzenkandidatin der Partei den Ukraine-Konflikt kommentiert und schaut das Video weiter.

facebook.com/SPD

Spitzenkandidatin Katarina Barley über den Umgang mit dem Krieg in der Ukraine.

Am nächsten Tag fährt Julia Max zum Fußballtraining. Max beschäftigt, was er auf TikTok sieht. Er fühlt sich von der Politik übersehen. Dass die AfD immer wieder gegen andere Parteien schießt, gefällt ihm. In den Kommentaren findet er viele User*innen, die seine Meinung teilen.

Im Auto erzählt er seiner Mutter davon. Einen Moment lang ist Julia sprachlos. Sie wusste nicht, welche Inhalte sich ihr Sohn im Internet ansieht. „Warum schaust du sowas? Findest du die gut? Die AfD? Die provozieren doch nur und schlagen selbst keine eigenen Lösungen vor.“

Max kann nicht verstehen, warum seine Mutter sich so aufregt. Er entgegnet, die anderen Parteien würden doch genauso provozieren. Sie seien es, die es auf die AfD abgesehen hätten.

Stimmt das, was Max oder Julia sagen?

In der Analyse sehen wir: Tatsächlich setzt vor allem die AfD auf Inhalte, die provokativ gestaltet sind – alle anderen Parteien deutlich seltener. Mit provokativen Inhalten sind Beiträge gemeint, die bewusst überspitzt oder spalterisch gestaltet sind, um Empörung auszulösen. Auch polarisierende Begriffe, wie „Feinde“ oder „Verräter“, nutzt die AfD in vielen ihrer Posts.

Rafael Bauschke, Professor für Politische Kommunikation an der FH Ludwigsburg, wundert das nicht: „Genau das ist in der DNA der AfD.“ Die Partei versuche, sich gezielt gegen die anderen Parteien zu positionieren. Dazu passe, verstärkt Freund-Feind-Schemata zu bedienen. Es zerstöre allerdings auch die Grundlage, um politisch zusammenzuarbeiten. Andere Parteien grenzten sich gerade in Wahlkampf-Zeiten zwar auch voneinander ab, setzten dabei aber eher auf einen sachlichen Diskurs – auch weil es für CDU/CSU, SPD, Grüne und FDP immer wieder darum gehe, Koalitionen zu bilden.

Mit provokativen Posts nutze die AfD auch die Funktionsweise Sozialer Medien für sich, sagt Politikberater Martin Fuchs. „Sie wissen, dass Krawall und Zuspitzung sehr gut funktioniert, weil es ein unterhaltendes Element hat.“ Das würde der Algorithmus mit Reichweite belohnen.

Nach der Europawahl wurde daher viel über die Rolle von TikTok im Wahlkampf gesprochen und die Plattform für den Wahlerfolg der AfD mitverantwortlich gemacht. Vor allem der Erfolg bei Max’ Generation, den Erstwähler*innen, hatte überrascht. Bei vergangenen Wahlen lagen meist die Grünen bei Erstwähler*innen vorn. 

Dass TikTok einen entscheidenden Einfluss auf die Wahl der Erstwähler*innen hatte, bezweifelt Rafael Bauschke allerdings. „TikTok alleine ist nicht schuld daran, dass junge Wähler die AfD wählen“, sagt Bauschke, „TikTok ist wie alles andere, was wir an Werbemaßnahmen oder Kanälen auch haben, ein Katalysator“ – beschleunigt den politischen Stimmungswandel also höchstens.

Dabei setzen die Parteien nicht nur auf TikTok – sondern auch nach wie vor auf Facebook. Im Untersuchungszeitraum haben die Parteien und ihre Spitzenkandidat*innen 129 Posts auf TikTok veröffentlicht und 327 Posts auf Facebook. 

Dass beide Plattformen bespielt werden, liegt am Alter der Zielgruppen. Vor allem jüngere Menschen nutzen TikTok, ältere eher Facebook. „Facebook sollte eigentlich eher der ‚Hunting Ground‘ für etablierte Parteien sein, weil die wissen, dass sie dort die älteren Wählergruppen erreichen“, sagt Bauschke. Ältere Menschen würden eher wählen gehen, deshalb würden die Parteien auch die gezielt ansprechen.

Auch die Art und Weise, wie die Parteien kommunizieren, unterscheidet sich zwischen den Plattformen. BSW, CSU und FDP posten auf Facebook mehr provokative Beiträge als auf TikTok. Der Anteil der provokativen Posts seitens der AfD ist auf beiden Plattformen ähnlich – allerdings mit unterschiedlicher Vehemenz. In ihren provokativen TikTok-Posts gibt sich die Partei noch spalterischer als bei Facebook.

Wem welche Posts in Sozialen Medien angezeigt werden, bestimmt in erster Linie ein Algorithmus. Auf Facebook können die Parteien allerdings auch dafür zahlen, dass Beiträge häufiger ausgespielt werden. Diese tauchen dann, als Werbung markiert, im Feed auf. Eine Auswertung der Ausgaben zwischen dem 14. Mai und 14. Juni zeigt: Die Parteien verfolgen offenbar verschiedene Strategien.

Während die Grünen von allen Parteien am meisten Geld für Parteiwerbung auf Facebook ausgeben, haben sie im Vergleich zu den anderen Parteien eine geringere Reichweite. Die AfD gibt dagegen verhältnismäßig wenig Geld für Werbung aus. „Zu viel Werbung wäre auch gar nicht sinnvoll für sie, weil es herausgeworfenes Geld ist“, sagt Martin Fuchs. Die AfD habe ihre Follower*innen so erzogen, dass sie genau wüssten, was sie mit neuen Posts machen sollten: liken – und teilen.

Am Sonntag darauf gehen Julia und Max wählen. Seit ihrem Streit im Auto haben sie nicht mehr über Politik gesprochen. Julia kann sich vorstellen, dass Max von der Situation überfordert ist. Auf dem Nachhauseweg spricht sie ihn noch einmal auf das Thema an: „Wenn du möchtest, kannst du mir die Videos zeigen, die du immer schaust. Ich würde das gern besser verstehen.“ „Vielleicht morgen“, sagt er und schaut wieder aus dem Fenster.

Max und Julia sind fiktiv – sich mit Politik auf Social Media auseinanderzusetzen, ist allerdings eine reale Herausforderung.

Rafael Bauschke empfiehlt niedrigschwellige Angebote wie den Wahl-O-Mat, um die eigene politische Position zu überprüfen. Genauso wichtig sei es, in der echten Welt mit Menschen in den Diskurs zu kommen. In den Sozialen Medien sollte man nicht alles glauben, was einem gezeigt würde.

Auch Medienkompetenz sei grundsätzlich sehr wichtig: Werden zum Beispiel Quellen angegeben? Martin Fuchs rät, man sollte sich bewusst sein, welche Inhalte einem angezeigt werden könnten. Und im Zweifel die Inhalte ignorieren.

Wie wurde die Untersuchung durchgeführt? 

Ein Team aus Journalistik-Studierenden der TU Dortmund hat in einem Seminar den Europawahlkampf auf TikTok analysiert und diesen mit dem Wahlkampf auf Facebook verglichen. Hierzu wurde der Zeitraum eine Woche vor bis eine Woche nach der Europawahl vom 3. Juni bis zum 16. Juni 2024 festgelegt. Insgesamt wurden 456 Posts auf TikTok und Facebook analysiert, davon 129 von TikTok und 327 auf Facebook.  

Analysiert wurden alle Postings von den Parteien, die bei der Europawahl mehr als fünf Prozent erzielten:  
- Christlich Demokratische Union Deutschlands (CDU) 
- Christlich-Soziale Union in Bayern (CSU) 
- Alternative für Deutschland (AfD) 
- Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) 
- Bündnis 90/Die Grünen (Grüne) 
- Bündnis Sahra Wagenknecht – Vernunft und Gerechtigkeit (BSW) 
- Freie Demokratische Partei (FDP) 

Zusätzlich wurden alle Posts von den Spitzenkandidierenden der jeweiligen Parteien ausgewertet:  
- Ursula von der Leyen (CDU) 
- Manfred Weber (CSU) 
- Maximilian Krah (AfD) 
- Katarina Barley (SPD) 
- Terry Reintke (Grüne) 
- Fabio di Masi (BSW) 
- Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) 

Anmerkung zur CDU-Spitzenkandidatin: 

Da die CDU keine einheitliche Bundesliste, sondern Landeslisten aufstellt, wird für die CDU die Kandidatin für das Amt des Kommissionspräsidenten als Spitzenkandidatin herangezogen. 

Anmerkung zum AfD-Spitzenkandidaten: 

In dieser Untersuchung wird der Spitzenkandidat der AfD auf Listenplatz 1 berücksichtigt, obwohl die Partei ein Auftrittsverbot für diesen Kandidaten sowie für den Zweitplatzierten verhängt hat. Dieses Verbot gilt für alle Wahlkampfveranstaltungen der AfD und für andere Veranstaltungen der Bundespartei. Trotz dieser Einschränkungen postete Krah auf dem TikTok-Kanal „maxkrah_doktorrechts“ im Untersuchungszeitraum Videos. Daher wird der Spitzenkandidat auf Listenplatz 1 in die Analyse einbezogen, um die methodische Konsistenz zu wahren und eine vergleichbare Bewertung der Spitzenkandidierenden aller Parteien zu ermöglichen. Die Untersuchung fokussiert sich auf die Social-Media-Aktivitäten, die unabhängig von den physischen Wahlkampfauftritten analysiert werden können. 


Was wurde untersucht? 

Die Studierenden analysierten die gesammelten Posts anhand vorher festgelegter Kategorien. Dabei wurden zuerst formale Informationen, wie Veröffentlichungsdatum, und Name des Accounts, sowie Views, Likes und Shares (Stand: eine Woche nach Veröffentlichung) gesammelt. Auf inhaltlicher Ebene wurden folgende Aspekte festgehalten: Richtet sich der Post gegen eine andere Partei? Mit welchem politischen Thema beschäftigt sich der Post? Wie emotional ist der Post? Ist die Rhetorik des Posts eher feindselig oder sachlich? Wurden polarisierende Ausdrücke genutzt? Wie provokativ ist der Post? 

Weitere Quellen:
Interview mit Rafael Bauschke, Professor für Politische Kommunikation an der FH Ludwigsburg; Interview mit Martin Fuchs, Politikberater und Experte für Politische Kommunikation

Fotos:
Sean Gallup/Getty Images

Autor*innen:
Esther Burmann, Mariana Büter, Simon Ewerbeck, Ilka Gartner, Sophie Godelmann, Malte Harzem, Lisa Hofman, Ineke Krause, Lena Lackmann, Liz Arielle Palma Bulnes, Merle Sophie Rickers, Johanna Luisa Ruhrbruch, Frederic Schnarr, Malte Steinmüller, Lennart Thomas, Jan van Huizen, Sarah Wippermann

Betreuung TU Dortmund:
Christina Elmer, Susanne Wegner

Redaktion:
Robert Meyer, Kevin Schubert, Kathrin Wolff

Im Auftrag des ZDF:

Design:
Josephine Gudakow