Das Ende der Corona-Pandemie?
Warum wir uns von der Herdenimmunität erstmal verabschieden müssen
Herdenimmunität – das ist seit Beginn der Corona-Krise eines der großen Ziele in der Pandemiebekämpfung:
Sind etwa zwei Drittel der Bevölkerung geimpft oder genesen, sind die übrigen Menschen geschützt. Zum Beispiel die, die nicht geimpft werden können. Dann könnte wieder Normalität einkehren, so die Hoffnung.
Doch ist das noch realistisch?
Was hinter Herdenimmunität steht
Die Grundannahme: Eine mit dem ursprünglichen Coronavirus infizierte Person steckt im Schnitt ungefähr drei weitere an, wenn keine Maßnahmen ergriffen werden (Basisreproduktionszahl R0=3).
In diesem Fall müssten rund 67 Prozent geimpft oder genesen sein, um Herdenimmunität zu erreichen. Dann steckt jede infizierte Person statistisch gesehen nur eine weitere an. Die Infektionszahl steigt nicht mehr exponentiell und die Geimpften schützen die Ungeimpften.
Warum es so wohl nicht kommen wird
Die Herdenimmunität ist eine statistische Überlegung unter vereinfachten Annahmen. Sie setzt voraus:
- Eine Gruppe, in der alle Kontakte gleich wahrscheinlich sind und alle das gleiche Risiko haben, zu erkranken
- Einen festen R-Wert
- Eine Impfstoffwirksamkeit von 100 Prozent
- Dass Geimpfte und Genesene gar nicht oder nur wenig infektiös sind
Quelle: Prof. Lars Dölken, Virologe,
Julius-Maximilians-Universität Würzburg
So einfach ist es in der Wirklichkeit nicht
1. Es gibt ansteckendere Virus-Varianten
Aktuell macht die Mutante B.1.1.7 rund 93 Prozent der Corona-Fälle in Deutschland aus (Stand: 21.04.2021). Diese Corona-Variante hat eine höhere Basisreproduktionszahl.
Die Annahme in diesem Fall: Eine Person steckt im Schnitt vier weitere an, sofern keine Maßnahmen getroffen werden.
Damit sich das Virus nicht weiterverbreitet, müssten nun 75 Prozent der Bevölkerung immun sein – vorausgesetzt die Impfungen wirken zu 100 Prozent.
2. Wirksamkeit der Impfstoffe
Keiner der zugelassenen Impfstoffe schützt zu 100 Prozent – „das müssen sie auch gar nicht“, sagt Prof. Christian Bogdan, Mitglied der Ständigen Impfkommission (STIKO). „Wir haben in jedem Fall eine starke Schutzwirkung und einen Schutz vor schweren Verläufen, Hospitalisierung und Tod durch Covid-19.“
Trotzdem wird so die Herdenimmunität erschwert.
Und: Über wichtige Aspekte des Impfschutzes herrscht immer noch Unklarheit.
3. Ungeimpfte Kinder und Jugendliche
Aktuell (Stand: April 2021) können Kinder und Jugendliche unter 16 Jahren nicht geimpft werden. Nur Comirnaty von Biontech darf ab 16 Jahren verwendet werden, die anderen Impfstoffe erst ab 18 Jahren. Biontech hat bei der EMA eine Zulassung seiner Vakzine für Kinder ab 12 Jahren beantragt.
Wenn bestimmte Bevölkerungsgruppen nicht geimpft werden können, beeinflusst das die Herdenimmunität. Ein Szenario:
Mal angenommen: Bei 100 Menschen müssten drei Viertel geimpft werden, um die Herdenimmunität zu erreichen. Dann müssten Kinder und Jugendliche (unter 16 Jahren) aus dieser Rechnung eigentlich herausgenommen werden.
Außerdem gibt es Menschen, die sich aus gesundheitlichen Gründen nicht impfen lassen können. Diese werden zur Vereinfachung hier nicht einberechnet.
Allein durch das Herausrechnen von Kindern und Jugendlichen (unter 16 Jahren) steigt die erforderliche Impfquote unter den Erwachsenen.
Auch ohne Kinder und Jugendliche müsste man 75 Menschen impfen, um den Herdenschutz zu erreichen. Dafür stehen ohne Kinder allerdings nur noch 86 Impffähige zur Verfügung.
Unter ihnen müsste die Impfquote bei 87 Prozent liegen.
Für Kinder ist eine Covid-19-Erkrankung in der Regel weniger gefährlich, trotzdem sind sie Krankheitsüberträger.
Für den kommenden Winter prognostiziert Virologe Prof. Lars Dölken von der Universität Würzburg: „Die Schulen werden öffnen, das Virus wird sich dort vermehren und wer Kinder hat, wird sich bei ihnen anstecken.“ Umso wichtiger sei es, dass sich möglichst viele impfen ließen.
4. Impfbereitschaft
In Deutschland ist keine Impfpflicht vorgesehen.
Etwa 80 Prozent stehen einer Impfung eher positiv gegenüber.
Virologe Lars Dölken warnt jedoch vor einer „falschen Sicherheit“ im kommenden Sommer: „Wenn die Lage zwischenzeitlich ruhiger wird und vielleicht 50 Prozent geimpft sind, darf keiner denken, es sei vorbei.“ Es sei vorstellbar, dass sich viele auf den ersten Erfolgen ausruhten. „Es muss klar sein, dass es auch eine vierte Welle im Winter geben wird. Und es liegt an uns, sie durch Impfungen gar nicht erst außer Kontrolle geraten zu lassen.“
Fazit
Wann genau beziehungsweise ob eine Herdenimmunität zu erreichen ist, hängt also von vielen Faktoren ab und bleibt unklar. Das ändert aber nichts daran, dass mehr Normalität zurückkehren kann, wenn mehr Menschen geimpft oder genesen sind.
„Wenn ein großer Teil der Bevölkerung gegen symptomatische Verläufe geschützt wäre, würde die mit dem Erreger verbundene Last für die Gesellschaft nicht mehr so bestehen“, sagt Epidemiologe Prof. André Karch von der Universität Münster. „Es ist aber ganz zentral, dass wir uns auf dem Weg dorthin mit Schutzmaßnahmen weiterhin möglichst gut aufstellen.“
Quellen:
Dr. Berit Lange, Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung; Prof. André Karch, Westfälische Wilhelms-Universität Münster; Prof. Lars Dölken, Julius-Maximilians-Universität Würzburg; Prof. Christian Bogdan, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg; Robert-Koch-Institut; Bundesministerium für Gesundheit; Anteil B.1.1.7: Auswertung von Daten eines Laborverbunds durch das Robert-Koch-Institut; Biontech/Pfizer; Moderna; Astrazeneca
Redaktion:
Kevin Schubert, Jennifer Werner
Im Auftrag des ZDF:
Autor*innen:
Jonas Becker, Laura Krzikalla
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