Schweigen im Hohen Haus

Wie der Bundestag (nicht) über Pandemien gesprochen hat

Frau steht am Redner:innenpult im Bundestag
leeres Redner:innenpult im Plenarsaal des Deutschen Bundestags
leeres Redner:innenpult im Plenarsaal des Deutschen Bundestags
Die Grafik zeigt, dass das Wort Pandemie erst 2020 häufig im DBT genannt wurde
Die Grafik zeigt, dass das Wort Pandemie erst 2020 häufig im DBT genannt wurde
leeres Redner:innenpult im Plenarsaal des Deutschen Bundestags

Im Bundestag schlägt das Herz der Demokratie. Das Plenum ist die Bühne für die wichtigsten Themen des Landes.

Doch wurde hier wirklich über alles diskutiert?

Pandemien ließen Volksvertreter und Volksvertreterinnen lange kalt:

Das zeigt eine Analyse von mehr als 400.000 Redebeiträgen seit 1949. Die Daten stammen aus dem „Open Discourse“-Projekt des Berliner Unternehmens Limebit und liegen ZDFheute exklusiv vor.

Die Grafik zeigt, wie oft die Abgeordneten seit 1949 über Pandemien debattiert haben.

Bis 1990 fiel das Wort „Pandemie“ nur ein einziges Mal.

Erst seit Mitte Februar 2020 wird in Redebeiträgen im Plenum, aber auch in Ausschüssen und in schriftlichen Anfragen darüber diskutiert. Zu diesem Zeitpunkt gab es bereits die ersten Corona-Fälle in Europa.

Je dunkler die Farbe, desto häufiger fiel das Wort im Plenum.

Zwischen September 1949 und Januar 2020 ging es in nur 56 von insgesamt 4.238 Plenardebatten überhaupt um Pandemien.

In nur sechs Sitzungen fiel das Wort mehr als fünf Mal.

Hat der Bundestag seine Kontrollfunktion nicht wahrgenommen?

Besuchertribüne im Plenarsaal
leeres Redner:innenpult im Plenarsaal des Deutschen Bundestags
Ullmann, FDP-Bundestagsabgeordneter im Plenarsaal
Andrew Ullmann (FDP), Professor für Infektiologie
Detlev Spangenberg (AfD) im Plenarsaal
Harald Weinberg (Linke) im Plenarsaal
Ullmann (FDP) im Plenarsaal

Nicht nur die WHO und Virologen warnten vor den Folgen einer drohenden Pandemie. Selbst das Robert-Koch-Institut – eine Behörde des Bundes – rechnete in einer Risikoanalyse aus dem Jahr 2012 mit Engpässen bei Schutzausrüstung und Arzneimitteln. Das Dokument lag auch dem Bundestag vor.

Doch die Warnung verhallte. Der Vorrat an Schutzausrüstung und Medizintechnik in Deutschland kam in den ohnehin seltenen Pandemie-Debatten nie zur Sprache.

Lediglich außerhalb des Plenums in zwei schriftlichen Anfragen aus den Jahren 2005 und 2014 – während der Vogelgrippe und Ebola – ging es explizit um dieses Thema.

2005 wollte eine CDU-Abgeordnete wissen, ob im Falle eines Ausbruchs ausreichend Schutzmasken vorgehalten werden.

Die Antwort: Die Versorgung vor Ort sei nicht die Aufgabe des Bundes.

Wer trägt also die Schuld daran, dass Deutschland wie viele andere Länder die Pandemieprophylaxe verschlafen hat?

Die Antwort des Bundestagsabgeordneten und Infektiologen Andrew Ullmann fällt denkbar knapp aus:

„alle.“

Der Bund kam bei den nötigen Reformen und den Pandemieplänen nicht hinterher. Die Länder bei der Finanzierung von Krankenhäusern. Denn die Bevorratung von Schutzkleidung und Intensivbetten kostet einiges an Geld.
Andrew Ullmann, FDP-Bundestagsabgeordneter

Der FDP-Politiker warnte bereits im Januar dieses Jahres vor dem neuartigen Coronavirus. Damals waren die Ausbrüche noch auf Wuhan und Südostasien beschränkt. Doch Ullmann hatte Zweifel an den Zahlen aus China.

Drei Wochen später, am 12. Februar, wiederholte er seine Warnung im Plenum des Bundestages:

Es wird heute viel gelobt [die Arbeit der Regierung, Anm. der Redaktion]. Wir sind aber in Deutschland für einen Ausbruch nicht gut gerüstet beziehungsweise bezüglich der Pandemieprophylaxe nicht gut aufgestellt.
Andrew Ullmann, FDP-Bundestagsabgeordneter

Kritik gab es auch aus den anderen Fraktionen. Detlev Spangenberg (AfD) forderte am selben Tag, Medizintechnik künftig wieder verstärkt in Deutschland produzieren zu lassen.

Harald Weinberg (Linke) kritisierte die mangelnden Vorhaltungen in Krankenhäusern.

Zu diesem Zeitpunkt war das Coronavirus bereits weltweit auf dem Vormarsch.

„Vorher waren Pandemien kein wirkliches Thema im Bundestag“, sagt Ullmann. Der Infektiologe ist einer der wenigen Fachpolitiker zum Thema und sitzt seit 2017 im Bundestag. Außerdem ist er Obmann der FDP-Fraktion im Gesundheitsausschuss.

Auf die vergangene Pandemie sind wir immer vorbereitet, aber nie auf die kommende.
Andrew Ullmann, FDP-Bundestagsabgeordneter

Pandemien seien Ullmann zufolge schon immer ein Nischenthema gewesen. Auch viele Fachleute hätten es lange nicht ernst genommen.

leeres Redner:innenpult im Plenarsaal des Deutschen Bundestags
leeres Redner:innenpult im Plenarsaal des Deutschen Bundestags
Besuchertribüne im Plenarsaal
Politik-Professorin Sabine Kropp von der FU Berlin auf der Besuchertribüne
Bundesratsbank
Besuchertribüne
Expertin für Pandemierecht Anika Klafki auf der Besuchertribüne
leeres Redner:innenpult im Plenarsaal
leeres Redner:innenpult im Plenarsaal

Knappe Maskenvorräte, Kinderbetreuung, Intensivbetten: Das sind einige der Probleme, die später auch hier diskutiert wurden – allerdings erst nachdem sich das Coronavirus auch in Deutschland ausgebreitet hatte.

Die „Open Discourse“-Daten zeigen, wie sich der Schwerpunkt der Debatte während der Pandemie verlagert hat.

In jedem Monat dominierte ein anderer Begriff. Auf „China“ im Februar folgten etwa im März die „Unternehmen“.

Andere wichtige Themen wie die Situation der Kinder und deren Eltern nahmen erst im April Fahrt auf, als die Corona-Maßnahmen bereits verschärft worden waren. Der Begriff Homeoffice hingegen kam früh auf und verlor – ähnlich wie „Krankenhaus“ – schnell wieder an Bedeutung.

Bundestagsabgeordnete: treibende Kraft oder Getriebene?

Pandemien waren bislang eine eher abstrakte Bedrohung. Und wenn ein Problem nicht drängt, fällt es schnell unter den Tisch – nicht nur im Bundestag.

Man agiert nicht wirklich, sondern man reagiert. Politik ist sehr häufig reaktiv und nicht in die Zukunft gerichtet. Das ist ein Punkt, der in der Pandemie eine erhebliche Rolle spielt.
Prof. Dr. Sabine Kropp, Politik-Professorin, FU Berlin

Dazu kommt: Dem Grundgesetz zufolge ist es vor allem Aufgabe der Bundesländer, die Folgen einer Pandemie zu bekämpfen.

Der Bund kann aber Leitplanken festlegen – unter anderem mithilfe des Infektionsschutzgesetzes. 

Deutschland war rechtlich nicht gut auf eine Pandemie vorbereitet. [...]
Ein besseres Infektionsschutzgesetz wäre möglich gewesen – das Gesetz regelt vieles nicht ausführlich genug.
Prof. Dr. Anika Klafki, Juniorprofessorin für Öffentliches Recht, Uni Jena

Ende März hat der Bundestag zusammen mit der Bundesregierung das Infektionsschutzgesetz nachgebessert – zwei Monate nach Ausbruch der Pandemie.

Das Infektionsschutzgesetz gibt dem Bund nun mehr Kompetenzen, vorerst befristet auf ein Jahr.

Danach wollen die Abgeordneten die Maßnahmen nochmal in Ruhe prüfen und das Gesetz erneut anpacken.

Denn eines ist sicher: Covid-19 wird nicht die letzte Pandemie gewesen sein.

Quellen:
„Open Discourse“, Verfassungsblog.de, Deutscher Bundestag, WHO, Der Spiegel 27/2003, Crashkurs IfSG (Prof. Dr. Anika Klafki), Johns-Hopkins-University, Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012 des RKI, Schriftliche Frage 15/5993, Antwort der Bundesregierung auf Schriftliche Anfrage 18/3377, Bundestagsrede Andrew Ullmann 12.02.2020, Wartena (2019): A Probabilistic Morphology Model for German Lemmatization

Autoren:
Robert Meyer, Simon Haas

Redaktion:
Jennifer Werner, Karsten Kaminski

Im Auftrag des ZDF:

Redaktion:
Ella Böhm, Sophie Gülzow

Design:
Josephine Gudakow,
Mischa Biekehör,
Jens Albrecht

Woher stammen die Daten?
Die ZDFheute-Analyse beruht auf Daten des Berliner Unternehmens Limebit, das sich mit Machine Learning und Softwareentwicklung beschäftigt. In einem Nebenprojekt namens „Open Discourse“ hat Limebit sämtliche Plenarprotokolle seit 1949 maschinenlesbar gemacht und ZDFheute zunächst exklusiv zur Verfügung gestellt. Limebit will die Datenbank künftig allen Bürgerinnen und Bürger im Netz zur Verfügung stellen.

Wie wurde die Datenbank durchsucht?
Um herauszufinden, wann Pandemien eine Rolle im Bundestag gespielt haben, wurden die Redebeiträge nach Buchstabenkombinationen durchsucht, die „Pandemie“ oder „pandem“ enthalten. Um die wichtigsten Themen während der Corona-Krise zu identifizieren, wurden in einem ersten Schritt alle Redebeiträge aus dem Jahr 2020 gesucht, in denen die Worte „Corona“ oder „Covid“ vorkamen. Zudem wurden für den nachfolgenden Analyseschritt alle Hauptwörter aus sämtlichen Redebeiträgen herausgefiltert und in ihre Normalform gebracht. Die Mehrzahl „Kinder“ wird zum Beispiel zur Einzahl „Kind“; so lassen sich Worte einfacher zusammenfassen.

Wie wurde die Relevanz eines Wortes berechnet?
Grundsätzlich gilt: Je häufiger ein Hauptwort in einem Monat vorkommt, desto wichtiger ist das Thema während der Debatten. Diese Zahl wurde ins Verhältnis mit der Zahl aller vorkommenden Hauptwörter gesetzt und mit 1.000 multipliziert. („Das Hauptwort kam x mal pro 1.000 gesprochenen Worten vor.“) Allerdings führt diese Methode dazu, dass Wörter wie „Herr“ oder „Antrag“ ganz oben im Ranking der meistgenannten Worte auftauchen – weil sie in jeder Debatte, unabhängig vom Thema, eine Rolle spielen. Deshalb wurde der Anteil eines jeden Wortes zusätzlich noch ins Verhältnis zu allen anderen Beiträgen gesetzt. Also: Wie wichtig ist zum Beispiel ein Wort für den Monat April im Vergleich zu allen anderen Monaten? So kam etwa das Wort „Krankenhaus“ im April tendenziell häufiger als im Februar, März, Mai und Juni vor.

Welche Fehler können in der Analyse auftauchen?
Die Analyse einer Datenbank mit mehr als 400.000 Redebeiträgen von Politikerinnen und Politikern und nochmal genauso vielen Aussagen des Bundestagspräsidiums ist durchaus fehleranfällig. Eine solch große Datenbank kann nicht komplett von Hand gegengecheckt werden. Deshalb wurde während der Analyse immer wieder stichprobenhaft überprüft, ob bestimmte Eckdaten der Datenbank stimmen. Zudem wurden regelmäßig die originalen Protokolle aus der Bundestags-Mediathek zur Überprüfung herangezogen. Kleinere Fehler tauchen auch in der Datenbank ab und zu auf – zum Beispiel ein fehlendes Leerzeichen, weshalb ein Hauptwort nicht korrekt identifiziert werden konnte. Dabei handelt es sich allerdings um stichprobenhaft geprüfte Einzelfälle, die die Analyseergebnisse nicht verzerrt haben.