Kartoffeln, Autos und
14 Jahre mehr Leben

Zeitreise durch 75 Jahre Bundesrepublik

Als Klaus Friese am 23. Mai 1949 in Hagen in Westfalen geboren wurde, war nicht davon auszugehen, dass er heute noch lebt. Damals lag die Lebenserwartung für neugeborene Jungen bei 64,6 Jahren. Doch nun feiert Friese seinen 75. Geburtstag – am gleichen Tag wie die Bundesrepublik, deren Grundgesetz am 23. Mai 1949 verkündet wurde.

Die Bevölkerung des neu gegründeten Landes war jung – 46 Prozent unter 30. Gut die Hälfte war evangelisch, 44 Prozent katholisch, nur 4 Prozent gehörten keiner dieser beiden Kirchen an. Der durchschnittliche Netto-Stundenlohn lag bei 1,10 D-Mark.

Die Kartoffel beherrscht den Esstisch

Als Klaus Friese ein Kind war, gab es Milchsuppe zum Frühstück. „Mit Kölln-Haferflocken und Brandt-Zwieback – Obst war da nicht drin“, erzählt er. Gekocht wurde deftig: Rinderbraten, falscher Hase, Fleischsalat. Dazu gab es „oft Kartoffeln, ab und zu Reis, Nudeln fast nie“.

Die Essgewohnheiten änderten sich mit den Gastarbeitern, die auch ihre Küche mitbrachten. 1968 aß Klaus Friese zum ersten Mal in einem ausländischen Restaurant in Deutschland, bei einem Italiener in Dortmund. „Pizza, das war das größte“, erinnert er sich. „Davor gab es ja nur Gastwirtschaften und Bierkneipen mit Schnitzel.“

Ob Bierkneipe oder Pizzeria: In den Nachkriegsjahrzehnten wurde auch immer mehr getrunken und geraucht. Von 1950 bis in die 70er-Jahre verdoppelte sich der Zigarettenkonsum, seitdem sinkt er fast kontinuierlich. Der Alkoholkonsum vervierfachte sich in der Zeit sogar. Heute trinken die Menschen im Schnitt noch etwa so viel wie Anfang der 60er-Jahre.

Das Wirtschaftswunder-Land

In ihrer Anfangszeit entwickelte sich die Bundesrepublik rasant. Die Jahre bis 1966 gelten als Wirtschaftswunder – mit einem Rekordwachstum von 12,1 Prozent 1955.

Der Wohlstand wuchs, auch bei den Frieses. Mit dem Opel Kapitän des Vaters fuhr die Familie 1960 nach Italien in den Urlaub, kaufte Ende der 50er-, Anfang der 60er-Jahre den ersten Schwarz-Weiß-Fernseher, die erste Waschmaschine. „Davor wurde die Wäsche noch in einem Bottich im Keller gewaschen“, erinnert sich Friese. Dann übernahm eine Constructa die Arbeit, „dafür musste extra ein Betonblock gegossen werden“.

Waschmaschine aus den 50er-Jahren. Quelle: Constructa Hausgeräte

Waschmaschine aus den 50er-Jahren. Quelle: Constructa Hausgeräte

Die ersten Modelle wurden noch mit vier Steinschrauben auf einem Sockel befestigt.

Für eine Waschmaschine mussten die Deutschen 1960 nach Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln im Schnitt noch fast 222 Stunden arbeiten. Heute sind es 19 Stunden. Durch den technischen Fortschritt sind solche Geräte für die breite Masse erschwinglich und vom Luxus zum Standard geworden.

Von der Volksschule zum Abitur

Nicht nur in Wirtschaft und Technik, auch in der Bildung hat sich die Bundesrepublik stark verändert. 1950 gingen von 7,7 Millionen Schülern 6,7 Millionen auf die Volksschule, die später in Grund- und Hauptschule geteilt wurde. Weniger als 0,7 Millionen besuchten ein Gymnasium.

Auch Klaus Friese kam Ostern 1955 in die Volksschule, eine evangelische. In Lederhose, mit einem braunen Tornister auf dem Rücken, als eins von 40 Kindern in der Klasse.

Klaus Friese bei seiner Einschulung 1955

Klaus Friese bei seiner Einschulung 1955

Dass er nach einer Aufnahmeprüfung später aufs Gymnasium wechselte, war etwas Besonderes, das Abitur 1968 sowieso. „In der Sexta waren wir 41 Jungs, davon haben 7 Abitur gemacht. Viele sind mit Mittlerer Reife abgegangen“, erzählt er. Standard war damals aber die Hauptschule – und fast jeder Fünfte machte gar keinen Abschluss.

Nach der Schule musste Klaus Friese zur Bundeswehr, studierte dann Pharmazie und Medizin in Mainz, wurde Frauenarzt. 1977 heiratete er mit 28 Jahren – spät für damalige Verhältnisse. Das durchschnittliche Heiratsalter lag für Männer bei 25, für Frauen bei knapp 23 Jahren, zehn Jahre niedriger als heute.

Dabei war der große Heiratsboom Ende der 70er-Jahre in der Bundesrepublik schon vorbei: Besonders viele Ehen wurden nach dem Krieg geschlossen und in den 60er-Jahren, dem „goldenen Zeitalter für Heirat und Familie“.

Die Frieses bekamen zwei Kinder, die Rollenverteilung war traditionell. Klaus Friese war Assistenzarzt und „nicht viel zu Hause. Ich habe nie ein Kind gewickelt“, sagt er.

Der Tag, der alles ändert

Den Wendepunkt der deutschen Geschichte erlebte Klaus Friese mit seiner Familie. Mit Frau, Sohn und Tochter saß er am Abend des 9. November 1989 in einer Wiesbadener Pizzeria. „Als wir hörten, die Mauer sei offen, sind wir schnell nach Hause gegangen und haben den Fernseher angemacht. Wir konnten es kaum glauben.“

Ein knappes Jahr später wurde Deutschland wiedervereinigt – die Bundesrepublik bekam 16 Millionen zusätzliche Einwohner. Ihr Leben änderte sich massiv.

Doch auch für den Westdeutschen Klaus Friese wurde der Mauerfall zu einem Wendepunkt. Er bewarb sich erstmals auf einen Lehrstuhl und wurde 1997 Direktor der Universitäts-Frauenklinik in Rostock. „Die spannendste Zeit meines Lebens“, sagt er. Was ihm besonders auffiel: die vielen Ärztinnen in der Gynäkologie, auch in leitenden Positionen – ganz anders, als er es aus seiner westdeutschen Laufbahn kannte.

Heute lebt Friese in München, in einer älteren Bundesrepublik – 30 Prozent sind über 60. Je ein knappes Viertel ist evangelisch beziehungsweise katholisch, mehr als die Hälfte gehört keiner dieser beiden Kirchen an. Der durchschnittliche Netto-Stundenlohn liegt bei 22,21 Euro.

War früher alles besser?

Die Bundesrepublik ist in 75 Jahren größer geworden, wohlhabender, liberaler und multikultureller. Aber was heißt das für die Menschen? Ist das Leben heute besser oder schlechter als früher?

Die wirtschaftliche Antwort gibt Christoph Schröder vom Institut der deutschen Wirtschaft in Köln. Er hat errechnet, wie unsere Kaufkraft gestiegen ist: um das Fünffache in Westdeutschland zwischen 1950 und 1991 und seitdem nochmal um ein Viertel in ganz Deutschland. „Das zeigt eindeutig, dass früher nicht alles besser war.“

Klaus Friese fällt auf die Frage, was sich verändert hat, als erstes ein: „Die Lebenseinstellung ist heute eine andere, die Work-Life-Balance, wie sich Männer um Kinder kümmern. Das ist schön. Aber wenn man mal einen Handwerker oder Hilfe braucht – das hat früher besser geklappt.“

Klaus Friese war bis 2014 Direktor der Frauenklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Quelle: LMU Klinikum

Klaus Friese war bis 2014 Direktor der Frauenklinik der Ludwig-Maximilians-Universität München. Quelle: LMU Klinikum

Seinen 75. Geburtstag feiert Friese in Südtirol. Heute ist die Lebenserwartung Neugeborener etwa 14 Jahre höher als bei seiner Geburt. Und wer es geschafft hat, 75 zu werden, kann als Mann statistisch gesehen damit rechnen, noch weitere 12,3 Jahre zu leben.

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Zu den Daten
 
Alle Daten aus der Zeit vor der Wiedervereinigung beziehen sich auf die frühere Bundesrepublik. Zu einigen Themen liegen erst ab den 60er- oder 70er-Jahren Zahlen vor.

Teilweise haben sich über die Jahrzehnte die Berechnungsmethoden verändert. Das gilt insbesondere für die Grafik zur Ernährung. So wurde früher das Fleisch ohne Fett erfasst. Seit 1985 wird es wegen einer europäischen Angleichung der Statistiken zum Schlachtgewicht dazugerechnet – die Verbrauchswerte erhöhten sich somit um zehn Prozent. Bei Obst und Gemüse wurde früher der Eigenanbau dazugeschätzt, heute nicht mehr.

Auch bei der Grafik zur Erwerbsquote der Frauen gibt es wegen der Umstellung des Mikrozensus 2020 einen Zeitreihenbruch.

Trotz solcher statistischen Veränderungen sind die generellen Trends aber belastbar.

Quellen:  
Statistisches Bundesamt; Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung; Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft; Bundesanstalt für Landwirtschaft und Ernährung; Institut der deutschen Wirtschaft Köln; Bundesarchiv; Detlef Pollack und Michael Krüggeler: Kirchenstatistische Zeitreihen von 1949 bis 2010; Deutsche Bischofskonferenz; Evangelische Kirche Deutschland; Ulrich John und Monika Hanke: Trends des Tabak- und Alkoholkonsums über 65 Jahre in Deutschland; Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen; Interview mit Klaus Friese

Fotos:
AP; action press; dpa; iStock/AndreyPopov; iStock/Black Lollipop;  iStock/TommL; Opel; Frederic Schlosser/obs; pa/dpa; pa/imageBROKER; pa/Klaus Rose; pa/Roland Witschel; pa/Süddeutsche Zeitung Photo; pa/ullstein bild; pa/United Archives

Autorin:
Kathrin Wolff

Redaktion:
Robert Meyer, Kevin Schubert


Im Auftrag des ZDF:

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Luisa Billmayer, Marielle Klein