Verkehrswende mit Verspätung
Warum es im Bahnverkehr stockt
Laut Koalitionsvertrag sollen sich die Fahrgastzahlen im Schienenverkehr bis 2030 auf etwa 2,8 Milliarden Passagiere verdoppeln. 2021 beförderte die Bahn rund 1,4 Milliarden Fahrgäste.
Im Interesse aller brauche es jetzt ein grundsätzliches Umsteuern, so Bahnchef Richard Lutz. „Mangelnde Kapazität und überalterte Anlagen in der Infrastruktur“ sollen ab 2024 in einer grundlegenden Sanierung angegangen werden. Was in Zukunft mehr Verlässlichkeit bringen soll, heißt für die nächsten Jahre aber erst mal: Die Fahrgäste müssen viel Geduld haben. Doch schon in diesem Jahr haben die Verspätungen im Fernverkehr immer weiter zugenommen.
Anteil verspäteter Züge im Fernverkehr*
Im Juni 2022 hatten etwas mehr als 40 Prozent aller Fernverkehrszüge der Deutschen Bahn Verspätung. Das liegt laut Mobilitätsexperte Andreas Knie neben Baustellen vor allem an den zu geringen Kapazitäten:
Die Deutsche Bahn hat schlichtweg mehr Züge angeboten, als sie tatsächlich bedienen konnte. Dahinter steckt ein strukturelles Problem: Wir haben seit 30, 40 Jahren die längst überfällige Verkehrswende bzw. die Stärkung der Schiene vernachlässigt und müssen jetzt dringend umsteuern.“
Das Streckennetz in Deutschland
Mit über 38.000 Kilometern ist das deutsche Streckennetz das längste in ganz Europa. Etwa 33.400 Kilometer davon werden von der Deutschen Bahn betrieben. Darauf reisten im vergangenen Jahr trotz Corona-Pandemie täglich fast vier Millionen Menschen in etwa 23.500 Zügen. Hinzu kamen rund 2.700 Güterzüge, die sich häufig die Strecken mit dem Personennah- und Fernverkehr teilen.
Auf diesen acht Streckenabschnitten kommt es häufig zu Überlastungen
In Teilen seien die Gleise noch auf Bedürfnisse aus dem 19. Jahrhundert angepasst, so Mobilitätsexperte Knie:
Wir haben eine Infrastruktur, beispielsweise im Raum Görlitz, die viel zu breit angelegt ist. Dafür haben wir etwa durch die Hohenzollernbrücke in Köln oder im Mannheimer Raum extreme Engpässe.
Besonders drei Strecken sind laut Expert*innen betroffen.
Das ist das Rhein-Main-Gebiet mit Frankfurt und Mannheim, das ist im Rhein-Ruhr-Gebiet vor allem der Raum Köln, und das ist Hamburg im Norden. Das sind seit Jahren die Räume, von denen die meisten Verspätungen ausgehen.
Welche Ursachen haben einzelne Verspätungen – und welchen Einfluss hat das auf das gesamtdeutsche Schienennetz?
Stau auf der Schiene
Beispiel: Frankfurt Hbf – Mannheim Hbf
„Verspätung eines vorausfahrenden Zuges“ sorgt nicht selten für Wartezeiten und tritt unter anderem auf der Strecke von der hessischen Metropole nach Mannheim auf. Der Zug muss hierbei seine Geschwindigkeit aufgrund eines anderen Zuges drosseln.
Alles steht und fällt mit dem Schienennetz. Das ist aktuell das Kernproblem. Es sind immer wieder die Engstellen in den großen Knoten-Bahnhöfen, die für die Verspätungen sorgen. Sie machen sogar etwa 50 Prozent aller bundesweiten Verspätungen aus.
Kapazitätsengpässe auf bestimmten Streckenabschnitten haben häufig Einfluss auf andere Verbindungen im gesamten Bundesgebiet. Es kommt zu einer Kettenreaktion an deren Ende zahlreiche Verbindungen mit Verspätungen stehen.
Fahrzeugstörungen und äußere Einflüsse
Beispiel: Hamburg Hbf – Hannover Hbf
Fahrzeugstörungen, wie Türen, die nicht schließen, waren Ursache für im Schnitt 10,5 Prozent* aller Verspätungsminuten, unter anderem auf den Zugstrecken im Norden Deutschlands.
*Durchschnittlicher Wert von 2010 bis 2019
Jahrelang sind zu wenige ICEs gekauft worden. Da wir jahrelange Vorlaufprozesse haben, dauert es einige Jahre, bis der Zug auf dem Gleis ist. Das sind Versäumnisse der Vergangenheit. Es gehört bei der Analyse auch dazu, dass die Bahn einigen Optimierungsbedarf bei der Wartung und Instandhaltung der Züge hat.
„Signalstörungen“ wurden im Schnitt in 7,1 Prozent* der Fälle als Verspätungsursache genannt.
*Durchschnittlicher Wert von 2010 bis 2019
Meist ist aber nicht das Signal, sondern die dahinterliegende Strecke das Problem. Aus technischen oder witterungsbedingten Gründen muss die Strecke vor der Weiterfahrt überprüft werden.
Konkret bedeutet das: Äste liegen auf den Gleisen, ein Stein hat sich in einer Weiche verkeilt oder Wasser legt nach heftigem Regen die Strecke lahm.
Aber auch alte, störungsanfällige Mechanik trägt laut Philipp Kosok vom Thinktank Agora Verkehrswende dazu bei. Das können beispielsweise auch defekte Verbindungen zum Stellwerk sein, welches u. a. für die Weichenstellung verantwortlich ist.
Auch äußere Einflüsse wie Sturmschäden können für Verspätungen sorgen.
Diese witterungsbedingten Ausfälle rücken immer sehr in den öffentlichen Fokus. Wenn sie auftreten, dann treten sie sehr geballt in großen Regionen auf. Sie dienen aber am Ende der Sicherheit der Fahrgäste. Da muss man dann auch ein Stück weit immer eine Abwägung zwischen Pünktlichkeit und Sicherheit treffen und hier würde ich immer für die Sicherheit plädieren.
Laut Allianz-pro-Schiene-Geschäftsführer Dirk Flege trägt jedoch auch die Deutsche Bahn selbst eine Mitschuld an den Verspätungen: So werden beispielsweise Bäume und Sträucher häufig nicht weit genug zurückgeschnitten, was eine Weiterfahrt behindert.
Als „äußere Einflüsse“ zählen neben witterungsbedingten Schäden auch Vandalismus oder Personen auf den Gleisen.
Warten auf Anschluss und viele Baustellen
Beispiel: Köln Hbf – Dortmund Hbf
Eine weitere Verspätungsursache ist das Warten auf Anschlusszüge. Dieses ist im Schnitt jedoch nur für 1,4 Prozent* aller Verspätungsminuten verantwortlich.
*Durchschnittlicher Wert von 2010 bis 2019
Warum warten so wenige Anschlusszüge? Nur wenn es keine Alternativen gibt und im Vergleich mehr Menschen davon profitieren würden, ordnen die Bahn-Disponent*innen an, dass der Zug wartet.
Dringlicher wird es, wenn im Anschlusszug Bahn-Personal sitzt. Auf dieses muss dann gewartet werden.
Auch Baustellen können ein Grund für Verspätungen sein – so wie auf der Strecke Köln – Dortmund im Juni. Sie können Umleitungen zur Folge haben, sogar Stationen können ausfallen.
Auch wenn Baustellen in den vergangenen Jahren durchschnittlich nur 7,6 Prozent* der Verspätungsminuten ausmachten, sind sie für Andreas Knie aktuell einer der Hauptgründe, warum Reisende länger unterwegs sind.
*Durchschnittlicher Wert von 2010 bis 2019
Aktuell liegt die geringe Pünktlichkeit der Bahn auch an vielen Baustellen, die nicht so vorankommen wie gedacht. Das hängt auch mit Corona zusammen.
Bahnverkehr in anderen Ländern
Neben der unzureichenden Infrastruktur ist aber auch der Mischbetrieb auf den meisten Schienen ein Faktor. Im Gegensatz zu Ländern wie Japan oder Frankreich, fahren deutsche Hochgeschwindigkeitszüge oft auf den gleichen Strecken wie der Personennah- oder Güterverkehr.
Gerade Japan und Frankreich fahren mit einem eigenen Hochgeschwindigkeitsnetz sehr gut. Dieses System hat jedoch Defizite in der Flächenabdeckung. In Deutschland werden wir mit dem Mischsystem leben müssen. Das Problem liegt aber hier eher an den nicht konsequent vorangetriebenen Modernisierungsmaßnahmen.
Wie der Fernverkehr pünktlicher werden könnte
Grundproblem bleibt weiterhin die zu hohe Streckenauslastung. Um Kapazitätsengpässe und andere Verspätungsursachen zu bekämpfen, gibt es laut Mobilitätsexpert*innen vor allem drei Faktoren:
- Ausbau und Sanierung des Schienennetzes
- Digitalisierung der Schiene
- Besser abgestimmter bundesweiter Taktfahrplan
Ausbau und Sanierung des Schienennetzes
Eine Verdopplung der Verkehrsleistung im Personenverkehr kann laut Allianz-Pro-Schiene-Geschäftsführer Dirk Flege nur gelingen, wenn auch die Schieneninfrastruktur entsprechend ausgebaut wird.
Die Bundesregierung hat jahrzehntelang das Schienennetz vernachlässigt. Es ist zu wenig Geld investiert worden für den Erhalt der Gleise. Als einzige Verkehrsinfrastruktur ist das Schienennetz geschrumpft, während das Straßennetz immer weiterwächst.
Im Gegensatz zum wachsenden Güter- und Personenverkehr wurde das Schienennetz im Vergleich zu 1995 sogar verkleinert.
Die Schuld sieht Dirk Flege vor allem bei der Politik. Die Investitionen des Bundes sind in den vergangenen Jahren zwar erhöht worden, doch im europäischen Vergleich belegt Deutschland noch immer einen der hinteren Plätze.
Laut Bundesverkehrsministerium sollen zwischen 2021 und 2025 etwa 45 Milliarden Euro in die bundesweite Infrastruktur des Schienennetzes und weitere 49 Milliarden Euro in den Ausbau innerhalb der Bundesländer investiert werden – mehr als doppelt so viel wie in die Straße. Aktuell hat die Bundesregierung das Versprechen aber noch nicht eingelöst, meint Mobilitätsexperte Philipp Kosok: „Wir sind weiterhin in einer Phase der systematischen Unterfinanzierung des Netzausbaus.“
Digitalisierung
Eine weitere Möglichkeit, die Verlässlichkeit der Bahn zu erhöhen: die Kapazitäten der Schieneninfrastruktur effizienter zu nutzen. Diese Effizienzsteigerung könnte durch eine umfassende Digitalisierung ermöglicht werden. Neben Fahrassistenten und digitalen Stellwerkssystemen geht es dabei auch um die flächendeckende Einführung des European Train Control Systems (ETCS). Durch das System kommuniziert der Zug automatisch mit der Strecke und den vorausfahrenden Zügen und passt daraufhin die Geschwindigkeit an.
Das ETCS kann eine Kapazitätssteigerung von bis zu 20 Prozent auf den gleichen Gleisen bringen, weil es mehr Züge in den gleichen Streckenabschnitt bringt.
Während das System in Luxemburg und der Schweiz bereits Standard ist, ist es in Deutschland unter anderem auf der Hochgeschwindigkeitsstrecke Nürnberg – Erfurt im Einsatz.
Daneben würde die Schiene so auch energieeffizienter und langfristig kostengünstiger werden, weil unnötige Brems- und Beschleunigungsvorgänge minimiert werden.
Bundesweiter abgestimmter Fahrplan
Schon 2017 stellte das Bundesverkehrsministerium den sogenannten Deutschlandtakt vor, der auch unter der Ampel-Regierung weiterverfolgt wird. Mit ihm sollen bis 2030 der Nah- und Fernverkehr aufeinander abgestimmt werden, um an den Knotenpunkten gemeinsame Ankunfts- und Abfahrzeiten für alle Verbindungen zu schaffen.
Neben Vorteilen für die Fahrgäste, deren Gewinn vor allem in der besseren Planbarkeit und angenehmerem Umsteigen liegt, sieht Philip Kosok von Agora Verkehrswende auch Vorteile für die Schieneninfrastruktur:
Mit dem Deutschlandtakt hat das Land erstmals einen Plan für die Bahn, für das Schienennetz. Das gab es in der Vergangenheit nicht, wo eher nach politischem Gusto Schienen neu gebaut worden sind. Mit dem neuen Konzept wird das Netz am künftigen Bedarf ausgerichtet.
Damit die Verkehrswende gelingen kann, müsse sich neben der Pünktlichkeit und der Modernisierung der Infrastruktur auch die Mentalität der Bundesregierung ändern, die laut Pro-Schiene-Geschäftsführer Flege noch zu sehr auf das Auto setzt:
Die Automobilwirtschaft und alles, was da ökonomisch dranhängt, hat eine unheimlich starke Macht. Und diese Beharrungskräfte sind offenbar enorm. Sie verhindern auf allen Ebenen den Wandel, den viele Menschen wollen. Und ich glaube, dass viele Menschen, besonders in den Städten, in der Verkehrswende weiter sind als die Bundespolitik.
Doch auch die öffentlichen Verkehrsunternehmen stünden in der Pflicht, die Verkehrswende endlich voranzutreiben, meint Mobilitätsforscher Andreas Knie: „Denn auch die, die die Bahn organisieren, fahren mehrheitlich mehr Auto.“
Unpünktlichkeit sei nicht nur ein Phänomen der Schiene, betont Verkehrsexperte Kosok. „Da spielen auch psychologische, subjektive Faktoren eine Rolle. Wir nehmen das anders wahr, wenn wir selbst hinter dem Steuer sitzen und zumindest gefühlt irgendwie noch Herr der Lage sind, als wenn andere in einem öffentlichen Verkehrsmittel komplett für unsere Reise verantwortlich sind.“
Quellen:
Agora Verkehrswende;
Allianz pro Schiene;
Bundesverkehrsministerium;
Bundestag; Deutsche Bahn; Koalitionsvertrag der Bundesregierung;
Interview mit Andreas Knie;
Interview mit Dirk Flege;
Interview mit Philipp Kosok
Foto-Quellen:
AP/Matthias Rietschel; dpa/Andreas Arnold; dpa/Marius Becker; dpa/Murat Marijan; dpa/Hendrik Schmidt; dpa/Georg Wendt; iStock.com/Bene-Images; iStock.com/geogif; iStock.com/Ilya Lukichev
Redaktion:
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