Wie steht es um Antisemitismus und Rassismus in Deutschland?
Heute wurde der Attentäter von Halle zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung verurteilt. Das ist vor gut 14 Monaten passiert:
Am 09. Oktober 2019 wird der höchste jüdische Feiertag Jom Kippur gefeiert. So auch in Halle.
Christina Feist ist zu Besuch in der Synagoge, als ein antisemitischer und rassistischer Attentäter versucht, möglichst viele Besucherinnen und Besucher der Synagoge zu töten.
Weil der Attentäter es nicht auf das Gelände schafft, überleben die Menschen in der Synagoge.
Doch der Angreifer sucht sich neue Ziele. Er tötet Jana L., eine Passantin, und Kevin S., den Besucher einer Döner-Bude.
Seine Tat streamt er live im Netz.
Christina Feist hat überlebt.
Aber wie viele der Betroffenen durchlebt sie ein Trauma. Alles in ihrem Leben hat sich verändert.
Wenn ich alles sage, dann meine ich auch wirklich alles. Jeden einzelnen Lebensbereich, meine Zukunftsperspektive und auch meine Perspektive auf das Leben, auf die Gesellschaft und auf die Politik.
In seiner Brutalität wirft der Anschlag ein Schlaglicht auf das Ausmaß von Antisemitismus und Rassismus in Deutschland.
Dieser Tag ist ein Tag der Scham und der Schande. Dass in diesem Land, mit dieser Geschichte, ein Anschlag auf eine vollbesetzte, jüdische Synagoge, und das am höchsten jüdischen Feiertag, stattfindet, das erfüllt uns alle mit Entsetzen und Abscheu.
Für viele jüdische Menschen und Menschen mit Migrationshintergrund ist der Anschlag nur „die Spitze des Eisbergs“.
Antisemitismus und Rassismus ist für viele Alltag.
41 Prozent* der befragten jüdischen Menschen waren innerhalb von zwölf Monaten in Deutschland von Antisemitismus betroffen.
* European Union Agency for Fundamental Rights Stand: 2018
48 Prozent* der zugewanderten Personen, deren Migrationshintergrund aufgrund ihres Erscheinungsbildes erkennbar ist, fühlen sich häufig diskriminiert.
* Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR-Forschungsbereich), 2018
Menschen, die das nicht erleben, nehmen das Ausmaß häufig nicht wahr, sagt Christina Feist. Der Überlebenden von Halle ging es selbst so:
Ich bin blond, ich habe blaue Augen und damit gehe ich vielleicht in der Mehrheitsgesellschaft optisch ein bisschen unter. Das ist etwas, worauf ich mich lange ausgeruht habe. Das ist auch etwas, was ich ganz, ganz entsetzlich finde, dass es so ist.
Im Jahr 2019 wurden rund 8.500 Straftaten erfasst, die durch gruppenbezogene Vorurteile motiviert waren und somit als Hasskriminalität bezeichnet werden.
Darunter fallen laut Definition des Bundeskriminalamts auch antisemitische und fremdenfeindliche Straftaten, die einen großen Anteil der Hasskriminalität ausmachen.
Die Dunkelziffer dürfte weit über den statistisch erfassten Zahlen liegen, sagen Expertinnen und Experten.
Gründe dafür seien zum Beispiel:
- Scham, Fälle zu melden
- mangelndes Vertrauen Betroffener in Behörden
- mangelndes Wissen seitens der Behörden rassistische und antisemitische Straftaten zu erkennen
Die Liste der antisemitischen Übergriffe seit 1945 ist lang. Es ist eine Liste der Schande. Sie muss jeden Demokraten und jede Demokratin umtreiben.
Darunter sind Taten wie diese:
Ein 80-Jähriger wird am Bahnhof antisemitisch beleidigt und zu Boden gestoßen. Ein Zeuge will helfen und wird von einem Freund des Angreifers schwer verletzt.
Vor das Haus einer jüdischen Familie wird ein großes Hakenkreuz gemalt.
Ein Rabbiner und seine beiden Söhne werden nach dem Besuch der Synagoge von einem Mann als „Scheiß Juden“ beleidigt. Eine hinzukommende Frau beleidigt einen der beiden Jungen ebenfalls als „Scheiß Jude“ und spuckt ihm laut Polizeiangaben ins Gesicht.
Unbekannte schmieren „Juden töten ist geil – danke Halle 2019“ und ein Hakenkreuz an die Wand einer Unterführung.
Auf dem jüdischen Friedhof werfen Unbekannte 40 Grabsteine um und beschmieren sie.
Ein Unbekannter verletzt einen 26-Jährigen, der eine Synagoge verlässt, mit einem Spaten schwer.
Antisemitismus sei in Deutschland ein „ausgeprägtes Problem”, sagt Rechtsextremismusforscher Matthias Quent. In rechten, linken, muslimischen Milieus und in der bürgerlichen Mitte. Deswegen brauche es mehr „Antisemitismus-kritische Bildung” in Schulen und Behörden:
Antisemitismus ist, vielleicht mehr als noch vor ein paar Jahren, eine Herausforderung, die offen ans Tageslicht tritt und die letztlich nicht nur eine Gefahr für Juden und Jüdinnen ist, sondern für die ganze moderne Gesellschaft.
Auch Christina Feist findet, dass die Probleme mit Rassismus und Antisemitismus uns alle betreffen. Die Überlebende von Halle hofft, dass mit dem Prozess mehr erreicht wurde als die Verurteilung des Täters.
Ich hoffe, dass es in Deutschland endlich zu dem Moment kommt, wo es ganz klare Worte gibt, auf die auch Taten folgen, und wir nicht nur dieses völlig ausgelutschte ‚nie wieder‘ haben.
Quellen:
European Union Agency for Fundamental Rights, 2018; Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR-Forschungsbereich), 2018; Bundesinnenministerium; Bundeskriminalamt; Frankfurter Rundschau, 30.01.2019; Polizei Coesfeld; Polizei Nordrhein-Westfalen, Aachen; SZ; Badische Zeitung; KNA; dpa; Matthias Quent, Rechtsextremismusforscher
Fotos:
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Autorin:
Luisa Houben
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